Ein drolliger, dennoch höchst bedenkenswerter Aufsatz aus der großen (englischsprachigen) Kairoer Wochenzeitung Al Ahram Weekly vom Anfang dieses Monats macht auch im Abendland einige Furore. Ramzy Baroud beklagt darin „die arabische Bildungsmisere“, wie sie kürzlich von einem Extra-Ausschuß der Uno mit großer Schärfe beim Namen genannt und gnadenlos ausgeleuchtet worden ist. Die Schulen und Universitäten der arabischen Welt, heißt es in dem Uno-Report, kämen immer mehr herunter. Bald werde es dort weder Ausbildung noch Erziehung mehr geben, nur noch Geschwätz und leeres Ritual.
Al Ahram-Autor Baroud teilt diese pessimistische Einschätzung, um dann aber fortzufahren: „Natürlich ist Bildung nicht nur ein System, sondern auch eine Denkart. Welchen Sinn hat es denn, einen Magister zu erwerben in einer Gesellschaft, in der Nepotismus bestimmt, wer was wird und tun darf? Vom Standpunkt des Eigeninteresses ist es viel vernünftiger, seine Zeit zu nutzen, um die ‘richtigen Leute’ kennenzulernen und ihnen die Visitenkarte zu überreichen, statt Jahre des Lebens damit zu verbringen, einen Universitätsabschluß anzustreben.“
Abschriften des Baroud-Aufsatzes zirkulieren bereits an deutschen und österreichischen Universitäten, wo zur Zeit Studenten Hörsäle besetzt halten, um gegen die offizielle Bildungspolitik zu protestieren. Anlaß der Proteste ist so mancherlei, etwa überfüllte Seminare und fehlende finanzielle Ausstattung, doch im Grunde geht es immer um das gleiche: um den überall grell sich artikulierenden Widerspruch zwischen dem Ausbildungssystem, das den Hochschulen heute aufs Auge gedrückt wird, und den Zukunftschancen, die angeblich damit verbunden sind – und die in Wirklichkeit nur vorgespiegelt sind.
Bologna-Prozeß“ heißt das von oben lancierte Zauberwort. Im Zuge des Bologna-Prozesses wird das europäische Hochschulwesen „vereinheitlicht“ und „effizienter gestaltet“. Es gibt einen für die ganze EU gültigen „Bachelor-Abschluß“ und einen entsprechenden „Master-Abschluß“, und für beide sind „Module“ erarbeitet worden, an die sich alle Dozenten halten müssen. Lehr- und Lernfreiheit gibt es kaum noch. Das Niveau wird allerorten gesenkt. Und die allgemeine „Modulisierung“ hat in den traditionell doch sehr unterschiedlichen Instituten und Studiengängen für horrende Irritationen, ja ortsweise für reines Chaos gesorgt. Die Proteste der Studenten sind nur allzu berechtigt.
Jeder Student weiß ja inzwischen: Die normierten Bachelor- und Master-Abschlüsse sind viel weniger wert als frühere Diplome und Promotionsurkunden. Der Rang der Lehrer, bei denen ich studiert, die Exzellenz der Lehranstalt, an der ich meinen Abschluß gemacht habe, sie gelten kaum noch etwas, alles richtet sich nur noch nach Modulen und Kennziffern, und ob ich je einen Job finde oder ins Prekariat absinke, richtet sich nicht in erster Linie (und nicht einmal in zweiter Linie) nach meinem Bildungsgrad, sondern steht ausschließlich im Belieben jener „richtigen Leute“, denen ich meine Visitenkarte überreicht habe.
Und natürlich sind die „richtigen Leute“ immer diejenigen, die mich schon lange kennen und die ich schon lange kenne. Entweder sind sie mit mir verwandt oder verschwägert, oder ich gehöre in ihren Clan oder in ihre Partei oder in ihren Betsaal, habe ihnen schon diesen und jenen Gefallen erwiesen und mich bei ihnen Liebkind gemacht. Ich habe entsprechenden Stallgeruch, und wenn ich noch keinen habe, muß ich ihn mir erwerben. Das ist aber nur möglich, indem ich die richtigen persönlichen Beziehungen aufbaue, statt Jahre in irgendwelchen Seminarräumen zu vertrödeln. Herr Baroud von Al Ahram hat recht.
Die Soziologie spricht, wenn sie Stallgeruch und Nepotismus meint, von „weichen Beziehungen“, und faktisch sämtliche Soziologen räumen ein, daß ein vernünftiges Fortkommen im Leben ohne weiche Beziehungen nicht möglich ist. Manche sagen sogar, daß Leben und weiche Beziehungen faktisch eins sind. Der Mensch ist von Natur aus kein einsamer, mag sein mit erstklassigen Diplomen ausgestatteter Wanderer, der überall mit offenen Armen aufgenommen wird, nur weil er gelehrt oder wenigstens gut ausgebildet ist. Er gehört immer irgendwo dazu, und das warme Gefühl der Zugehörigkeit ist, wenn es darauf ankommt, immer wichtiger als ein Doktordiplom, von Bachelor-Zertifikaten zu schweigen.
Natürlich kommt es auch hier, wie überall, auf das rechte Maß an. Eine Gesellschaft, die nur auf Clan-Loyalitäten oder anderen weichen Beziehungen gegründet ist, gerät früher oder später in schlimme Stagnation. Sie wird unfähig zur Anpassung an neuartige, unerwartete Zustände, ihre theoretischen und praktischen Spracharsenale verdorren, verwandeln sich in pures Ritual, das nicht den geringsten Kontakt zur Wirklichkeit mehr hat. Genau das ist es ja, was der Uno-Report gegen das aktuelle arabische Bildungssystem einzuwenden hat: seine Abhängigkeit von Clanräson und überständigem Stammesritual.
Zu beachten ist dabei freilich, daß Stagnation und Sprachohnmacht nicht nur aus originärem Nepotismus gespeist werden, sondern auch aus einem verfehlten, völlig verbürokratisierten und letztlich lebensfeindlichen Effizienz- und Verwertungsdenken, wie es der fatale Bologna-Prozeß an den deutschen Universitäten eingeleitet hat. Dieser Prozeß wird, wenn er denn siegen sollte, auch das europäische Bildungssystem in Geschwätz und bloßen Formelkram verwandeln, in einen Tanz der Module, der für geistige Exzellenz keinen Raum mehr läßt.
Nepotismus und Superbürokratie in Bildungsfragen bedingen einander. So kann man nur hoffen, daß aus den gegenwärtigen Studentenprotesten in Deutschland und Österreich die richtigen Schlußfolgerungen gezogen werden. Erträgliche Studienbedingungen und ausreichende Finanzmittel sind nötig. Am allernötigsten aber sind geistige Eliten, die sich weder als Bürokraten noch als Clanchefs gerieren.