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Marc Jongen, ESN Fraktion

Feindbild „Spießer“

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Feindbild „Spießer“

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Gemeinhin wird die Kulturgeschichte der Bundesrepublik nach folgendem Schema interpretiert: Restauration in der Ära Adenauer – Revolution ’68 – Erreichen des westlichen Zivilisationsniveaus. Abgesehen von Bewertungsfragen ist dagegen vor allem zweierlei einzuwenden: Erstens wird die wichtige Vorgeschichte in der Besatzungszeit ausgeblendet und zweitens übersehen, daß die Weichen schon zu Beginn der sechziger Jahre neu gestellt wurden, jedenfalls vor dem Auftreten der APO.

Was die Vorgeschichte betrifft, so geht es in erster Linie um die Reeducation, dann um die Praxis der Lizenzvergabe im Pressesektor und die Vorbereitung der Machtübernahme der Linken im Kultur- und Literaturbetrieb, womit nicht nur die Verlagshäuser gemeint sind, sondern vor allem die Rundfunkanstalten, deren Einfluß in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten kaum überschätzt werden kann.

Daß diese Aspekte für gewöhnlich nicht zur Sprache kommen, hat damit zu tun, daß ihre Erwähnung den späteren Sieg der progressiven Kräfte verschatten und an die unerfreuliche Tatsache erinnern müßte, daß unter den Bedingungen des freien Spiels der geistigen Kräfte die intellektuelle Rechte dominierte.

Denn als nach dem Ende von „Entnazifizierung“ und Besatzungszensur wieder die Möglichkeit zu echter Diskussion über die anstehenden Probleme kultureller oder politischer Art bestand, zeigte sich, daß kaum jemand an der Fortsetzung der immer sehr moralischen und sehr weltfremden Auseinandersetzungen interessiert war, die die „Fünfundvierziger“ kontrolliert hatten.

Die Ära Adenauer erscheint deshalb als Zeit kultureller Blüte und der Triumph der Linken kaum der eigenen Anstrengung und Tüchtigkeit geschuldet, eher einem tiefgreifenden Mentalitätswandel. Zu dessen wesentlichen Bedingungen gehörten die Große Détente, die zur Annäherung zwischen Sowjetunion und USA führte und Westdeutschland seiner Unverzichtbarkeit als Vorposten im Kalten Krieg beraubte, und der Mauerbau, der diesen Zustand festschrieb und die Gesellschaft der Bundesrepublik auf sich selbst zurückwarf.

Letztlich hat das zu einer bemerkenswerten Veränderung des öffentlichen Interesses geführt, weg von kommunistischer Gefahr und „Deutscher Frage“ und den Problemen des Wiederaufbaus (Integration der Vertriebenen, Verwahrlosung der Jugend, Reform des Bildungssystems), hin zu allem, was mit jenem nachholenden Antifaschismus zu tun hatte, für den die Auschwitzprozesse nur Anlaß, nicht Ursache waren.

Ein aufschlußreiches Symptom der Verschiebung war der Erfolg von Hermann Glasers „Spießer-Ideologie“, deren erste Auflage 1964 erschien und sofort Furore machte. Die Wirkung des Buches erklärt sich nicht nur aus Glasers politisch-pädagogischem Elan oder der Darstellung kleinbürgerlicher Vorstellungswelten und ihrer angeblichen Bedeutung für den Aufstieg Hitlers, sondern zuerst aus einem Mißverständnis – daß sich der Titel auf die Gegenwart bezöge – und in zweiter Linie daraus, daß Glaser systematisch den Verdacht nährte, „daß Wesenszüge des deutschen Spießertums ‘in alter Frische’ sich erhalten haben“ und daß diese Wesenszüge jederzeit einem neuen „Faschismus“ den Boden bereiten könnten.

Das hat der Forderung Nachdruck verliehen, nicht nur von Old Shatterhand und Barbie, Volkslied und Volkstanz, Guter Stube und Bierkonsum, Korpsstudenten und Reserveoffizieren, Wagner und Lehár, Manieren und preußischen Tugenden, Plüschsofa und Platzdeckchen zu lassen, sondern gleich die ganze kulturelle Tradition Deutschlands zu erledigen, die kontaminiert sei – abgesehen höchstens von ein paar Jakobinern, jüdischen Intellektuellen und linken Demokraten.

Glaser bot ein Argumentationsmuster von außerordentlicher Brauchbarkeit im ideologischen Tageskampf der sechziger Jahre. Denn der „Spießer“ eignete sich als Feindbild für die hedonistische Masse wie die progressive Intelligenz. Die einen durften sich im Recht fühlen, wenn sie es endlich nicht mehr so genau nahmen, die anderen, wenn sie gegen den gemeinen Mann hetzten, über den der Linke sonst kein böses Wort sagen darf.

Glasers „Spießer-Ideologie“ hat die ästhetischen Urteile ganzer Alterskohorten direkt oder indirekt bestimmt, er selbst ist zu einem der bedeutendsten Kulturfunktionäre der Bundesrepublik aufgestiegen. Seine Stellungnahmen, ob es um die Gefahr von rechts oder die Ostverträge, Parteinahme für autonome Gewalttäter oder für Intellektuelle ging, die Gefallen am Kommunismus fanden, wirken heute teilweise bizarr, entsprachen aber bis in die achtziger Jahre durchaus dem Konsens der Meinungselite.

Deren Einflußnahme hatte und hat eine denkbar fatale Wirkung auf das geistige Leben unseres Landes – und wenn Männer wie Glaser heute altersmilde wirken oder Kulturkritisches äußern und die FAZ sie in der „Mitte der Gesellschaft“ angekommen sieht, bleibt doch der Tatbestand, daß man hier die Verantwortlichen dafür suchen muß, daß es seit Jahrzehnten keine freie Diskussion mehr gibt, die Selbstzensur eine Macht ersten Ranges werden konnte und die tonangebenden Kreise unbelehrt und unbelehrbar an einer Doktrin festhalten, die sich aus Borniertheit und „moralisch erzwungener Verdummung“ (Egon Flaig) speist. Daran haben weder Veränderung der weltpolitischen Lage noch Wiedervereinigung etwas geändert.

Es ist durchaus berechtigt, darauf hinzuweisen, daß vergleichbare Zustände auch in anderen westlichen Ländern zu beobachten sind. Aber die Tiefe des Falls und der Grad der kulturellen Devastation sind kaum vergleichbar, sowenig wie die Folgen für die Kollektivseele; die deutsche jedenfalls zählte stets zu den besonders heiklen und nimmt alles schwer.     

Foto: Honoré Daumier, Das freie Wort (Ausschnitt, Lithographie, 1835): Seit Jahrzehnten gibt es in diesem Land keine freie Diskussion mehr

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