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Marc Jongen, ESN Fraktion

Die Sprache der Dinge lernen

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Wilhelm Lehmann griff sehr hoch im Lob des verehrten Freundes: „Man wird von Loerke wie von Hölderlin künden, seine lautlose Macht zu begreifen. Denn hat man in sein Angesicht geschaut, so hat sich einem das Angesicht der Erde geändert.“

So klang es zu Oskar Loerkes zehntem Todestag im Februar 1951. Dem Urteil haben sich inzwischen nicht wenige Kenner angeschlossen, die ihn zu dem halben Dutzend der größten Lyriker des zwanzigsten Jahrhunderts rechnen. Trotzdem: Über den Rang eines Geheimtips ist der am 13. März 1884 im westpreußischen Jungen, nahe Schwetz an der Weichsel, geborene Bauernsohn und frühe Kleist-Preisträger (1913, zusammen mit dem Erzähler Hermann Essig) auch zu seinem 125. Geburtstag nicht hinausgekommen.

Die überschaubare Loerke-Gemeinde müßte heute deswegen abermals auf Lehmann verweisen, der ihr tröstend zuruft, daß der Tote warten könne: „er hat alle Ewigkeit für sich“. Große Worte. Aber über die erstaunliche Kluft zwischen esoterischer Wertschätzung und öffentlicher Gleichgültigkeit helfen sie nicht hinweg. Anders als bei Wilhelm Lehmann (1882–1968), der mit ihm unter dem Etikett „Naturmagier“ firmiert, kümmert sich zudem niemand darum, das aus Gedichten, Prosa, Essays und Briefen bestehende Werk Loerkes in einer Edition wieder zugänglich zu machen.

Seit Reinhart Tghart vor zwanzig Jahren seinen „Bericht über die bibliographische Situation, den Nachlaß und Probleme einer künftigen Werkausgabe“ publizierte, ist – sieht man ab von der Herausgabe des Briefwechsels mit Gerhart Hauptmann (2006) – nichts geschehen, um Loerke präsent zu halten. Die „jüngsten“ Anstrengungen auf diesem Felde datieren aus den 1960er Jahren, als nach den Diarien (1956) und den Reisetagebüchern (1960) noch eine Auswahl seiner „Literarischen Aufsätze“ aus der Neuen Rundschau (1967) und den Rezensionen für den Berliner Börsen-Courier („Der Bücherkarren“, 1965) erschienen ist.

So bleibt der paradoxe Befund, daß Loerke die stärkste Resonanz in einer Zeit erfuhr, die er zutiefst verachtete – zwischen 1933 und 1939. Sich gegen den „Zeitgeist“ des Dritten Reiches zu stellen, gab es für ihn gute Gründe. Der wichtigste war ein existentieller. Gottfried Benn, der kurzfristig für die NS-Bewegung entflammte Freund, half mit, Loerke im April 1933 aus der gutdotierten Stellung des Sekretärs der Sektion Dichtung der Preußischen Akademie der Künste zu „entfernen“. Zu aufdringlich personifizierte der langjährige „arische“ Cheflektor des „jüdischen“ Verlages Samuel Fischer die literarische „Asphaltkultur“ des verflossenen Weimarer „Systems“, deren Repräsentanten, Thomas Mann an der Spitze, auf dem Weg in die Emigration waren. Allerdings hatte der konstitutionelle Kosmopolit Loerke, der von sich behauptete, nichts in der Welt könne ihn zu einem „politischen Menschen“ machen, sich nicht, auch nicht durch gelegentliche Mitarbeit an der Weltbühne, derart auf der Linken exponiert, daß er nach 1933 gefährdet gewesen wäre.

So fiel ihm, der sich 1930 aus dem Lärm des weltstädtischen Zentrums in die ländliche Abgeschiedenheit von Berlin-Frohnau zurückgezogen hatte (wo er 1941 starb), die Position des, wie Samuel Fischer ihn 1934 pathetisch pries, „Großsiegelbewahrers des deutschen Geistes“ in der „Inneren Emigration“ fast wie selbstverständlich zu.

Und die „Stillen im Lande“ fanden Zugang zu den so sperrig- hermetischen Gedichten Loerkes, aus denen sie nun plötzlich Botschaften des Widerstandes herauslasen. Die Achtundsechziger-Germanistik, allen voran der „Antifaschist“ Ralf Schnell, wollte in vielen Schlüsseltexten Loerkes jedoch weniger chiffrierte Anklagen gegen das NS-Regime erkennen als Einladungen zur Flucht aus der Wirklichkeit, Wortmeldungen eines unpolitischen Eskapismus, der die „totalitäre Herrschaft“ ungewollt sogar noch stabilisiert habe.

Schlimmer noch: Letztlich richteten „Naturlyriker“ wie Loerke und Lehmann gar nicht gegen den „Faschismus“. Vielmehr spielen sie die „Grundmächte“, die „ewigen Ordnungen“ der Natur und – wie Loerke vor allem in seinen großen Essays zu den „überweltlichen“ Schöpfungen der Musik (Bach, Bruckner) und Literatur (Herder, Stifter) – der Kunst gegen das vergänglich-chaotische Diesseits der industriellen Moderne aus. Diese typisch „kulturkonservative“ Reaktion, „wahres Leben“ jenseits gesellschaftlicher Verhältnisse zu orten, verspreche nur die ideelle Möglichkeit „heilen Daseins“, vermittelt durch die „Magie“ dichterischer Naturbeschwörung. Tatsächlich ist „magisch“ ein Schlüsselwort in Loerkes Poetologie, und schon zu Beginn seiner lange entbehrungsreichen Karriere eines „freien“ Schriftstellers verpflichtete er sich auf die Devise: „Ich muß die Sprache der Dinge lernen.“

Damit waren die Weichen freilich früh gestellt, um der dem Kosmozentriker nachträglich zugemuteten anthropozentrischen Reduktion seiner Poesie auf Politik zu entkommen und wirkungsgeschichtlich vielleicht noch „alle Ewigkeit“ vor sich zu haben.

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