Die Bilanz der relativ umfangreichen Auseinandersetzungen um das Epochenjahr 1968 bestätigt einige charakteristische Besonderheiten im Umgang mit unserer jüngeren Geschichte im allgemeinen, mit der 68er-Bewegung im besonderen. Die kritischen Urteile können nicht darüber hinwegtäuschen, daß bestimmte Zusammenhänge nicht oder nur unzureichend behandelt worden sind — und in Zukunft offensichtlich auch so behandelt werden sollen, ganz so wie es George Orwell prägnant formuliert hat: „Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft; wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.“ Nicht wenige maßgebende Beiträge zu diesem Thema in Wissenschaft und Publizistik vermitteln den Eindruck, daß ihnen mehr an einer Verklärung denn an einer Klärung der entscheidenden Motive, Methoden und Ziele der 68er gelegen ist. Der Mythos lebt! Diese Feststellungen lassen sich aus dem Argument ableiten, daß die gewaltsamen Aktionen der Studenten zur Durchsetzung ihrer Forderungen selbstverständlich zu verurteilen sind. Dafür gibt es überzeugende Belege, damals wie heute. Allerdings sollte man sich vor „Pauschalisierungen“ hüten und die vermeintlich „berechtigten“ Proteste der „jungen Leute“ nicht diffamieren oder gar kriminalisieren. Dazu gehörten vor allem die Proteste gegen die „restaurativen Tendenzen“ in der damals noch jungen Bundesrepublik, gegen das vermeintliche Wiedererstarken antikommunistischer und antisemitischer Bewegungen als Wegbereiter eines neuen Faschismus sowie gegen eine angebliche „Bildungskatastrophe“. Man fühlt sich an die Losung der DDR-Nostalgiker erinnert: „Es war nicht alles schlecht in der DDR“ — und eben auch nicht in der 68er-Bewegung. Wer hat das auch ernsthaft behauptet? Entscheidend ist, daß mit dieser Argumentation das Wesentliche der 68er-Revolte nicht erfaßt wird. Sie verstößt gegen einen elementaren Grundsatz der wissenschaftlichen und publizistischen Arbeit: die Ereignisse so darzustellen, wie sie sich eigentlich zugetragen haben — und nicht, wie sie sich hätten zutragen sollen. In der veröffentlichten Meinung konnte der Eindruck entstehen, daß die 68er-Bewegung eine Reaktion auf spezifisch deutsche Fehlentwicklungen in Gesellschaft und Politik gewesen sei, der wir nachhaltige Anstöße für vermeintlich überfällige Reformen zu verdanken haben. Es soll nicht bestritten werden, daß die Kritik an den deutschen Verhältnissen tatsächlich eine wichtige Rolle zum Verständnis der 68er gespielt hat. Allerdings war sie in der Regel der Anlaß, nicht aber das eigentliche Motiv des politischen Engagements. Dieses zielte auf eine radikale sozialistische Systemveränderung ab und nicht auf diese oder jene Reform der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. „Systemveränderung“ war einer der positiven Schlüsselbegriffe in der damaligen Auseinandersetzung, Reformismus einer der negativen. Die Tatsache, daß die Neue Linke zwar nicht durchgängig, aber weithin auf deutliche Distanz zum realsozialistischen Herrschaftssystem in den kommunistischen Staaten bedacht war, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie sehr schnell eine entscheidende Rolle in der „Strategie und Taktik der kommunistischen Weltbewegung“ gespielt habe, um an ein offiziöses Lehrbuch der KPdSU zur Funktionärsschulung zu erinnern, in dem die maßgebenden Einflußstrategien und Taktiken ausführlich dargelegt wurden. Der Verlauf und die Ergebnisse zweier internationaler Tagungen der kommunistischen Weltbewegung dokumentieren die Bedeutung der 68er-Bewegung für die kommunistische Volksfrontpolitik und damit auch für die sowjetische Außenpolitik. Es waren dies die Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien Europas im April 1967 in Karlsbad (Karlovy Vary) in der CSSR und die Internationale Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien im Juni 1969 in Moskau. In beiden Konferenzen spielte die Analyse der damaligen revolutionären Situation in vielen kapitalistischen Staaten eine entscheidende Rolle: in Karlsbad in der Absicht der Sammlung und Koordination aller möglichen Bündnispartner; in Moskau im Sinne einer ersten Bilanz der Erfahrungen aus den Jahren 1967/68. Zu den bevorzugten „Bündnispartnern“ der Kommunisten — auch dies wird aus dem öffentlichen Bewußtsein systematisch verdrängt — gehörten nach der gründlichen Analyse der revolutionären Bewegungen des Jahres 1968 die „Gläubigen aller Religionen“. Eine erfolgreiche revolutionäre „Systemveränderung“ kann — wie die Erfahrungen lehren — nicht gegen, sondern nur mit den „Gläubigen“ in der Bundesrepublik erzielt werden. Deshalb ist „die Einbeziehung breiter Massen von Gläubigen in den Kampf gegen den Imperialismus und die Monopole eine der bedeutungsvollsten Erscheinungen unserer Zeit“, konstatierte die Moskauer Konferenz von 1969 (Strategie und Taktik). Dabei sollte allerdings peinlich genau beachtet werden, daß die „religiöse und marxistische Ideologie unversöhnlich sind“. Die christlichen Kirchen, die evangelische mehr, die katholische weniger, haben in weiten Teilen die Erwartungen an die „Zuträgerfunktion der Christen für den Sozialismus“ vollauf erfüllt, vor allem in Lateinamerika, aber auch in Deutschland durch ihre aktive Unterstützung der 68er-Bewegung. Dazu zwei unverdächtige Leitfiguren der 68er im Rückblick auf diese Bewegung: Heinrich Albertz, 1967 einige Monate Regierender Bürgermeister von Berlin: „Aus der deutsch-nationalen Kirche von einst ist eine Institution geworden, an der gemessen die SPD eine rechtsreaktionäre Partei ist.“ Und Helmut Gollwitzer konnte befriedigt feststellen, daß die Studentenbewegung auf keinen Teil der Bevölkerung so nachhaltig gewirkt hat wie auf die jüngere Generation der evangelischen Christen. Es ist die Generation, die das öffentliche Leben der letzten vierzig Jahre im wesentlichen bestimmt hat. Sie prägt es weithin auch heute. Wie lange noch?
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