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Marc Jongen, ESN Fraktion
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Marc Jongen, ESN Fraktion

Meister der Taktik

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Unwort, Umfrage, Alternativ

In Österreich herrscht seit Wochen „Wahlkampffieber“. Am 1. Oktober wählt das Acht-Millionen-Volk seine 183 Abgeordneten zum Hohen Haus in Wien. Mit einem gemeinsamen Antrag aller vier im österreichischem Nationalrat vertretenen Parteien hatten die Parlamentarier die vorzeitige Beendigung der 22. Gesetzgebungsperiode beschlossen. Der Auflösungsbeschluß fiel einstimmig – seitdem wird in Österreich Bilanz gezogen über des Kanzlers „Wendejahre“, die der Alpenrepublik unter der Führung von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel erstmals seit den siebziger Jahren wieder einen ÖVP-Kanzler „bescherten“. Aber alles der Reihe nach. Vor sieben Jahren hatten die Österreicher gewählt, und das, was an diesem historischen 3. Oktober 1999 vom Innenminister als offizielles Wahlergebnis verkündet wurde, kam einem politischen Erdbeben gleich. Die konservative Österreichische Volkspartei hatte mit 26,91 Prozent der Wählerstimmen ihr schlechtestes Ergebnis seit 1945 eingefahren. Die SPÖ als Kanzlerpartei blieb mit 33,16 Prozent zwar stärkste Fraktion im Nationalrat, aber auch sie hatte noch nie schlechter abgeschnitten. Eindeutiger Wahlsieger war Jörg Haiders FPÖ, die zur zweitstärksten Partei geworden war. In dem nun rund vier Monate dauernden Gesprächs- und Verhandlungsmarathon gelang Wolfgang Schüssel sein Polit-Meisterstück an zielgerichteter Taktik. Er rückte zum richtigen Zeitpunkt vom (vorher den Wählern versprochenen) Oppositionskurs ab, trat in Verhandlungen mit den Sozialdemokraten ein und stellte zuletzt Forderungen, die die SPÖ nicht annehmen konnte. Der ÖVP-Chef verhandelte ohne Auftrag des damaligen österreichischen Bundespräsidenten Thomas Klestil mit der FPÖ und kam mit Haider zu einer raschen Einigung. Beide Politiker stellten dann Klestil, der mehrmals in der Öffentlichkeit „mit großer Sorge“ für eine „breite Zusammenarbeit“ eingetreten war, vor vollendete Tatsachen. Am 4. Februar 2000 gelobte der Bundespräsident die schwarz-blaue Regierungsmannschaft mit eisiger Miene an. Nach dreißig Jahren gab es wieder einen Bundeskanzler aus den Reihen der Österreichischen Volkspartei. Die „Wenderegierung“, die sich einem rigorosen Spar- und Reformkurs verschrieb, setzte unterdessen die ersten Maßnahmen um. Finanzminister Karl-Heinz Grasser (FPÖ) ließ binnen kurzer Zeit die Budgets für die Jahre 2000 und 2001 erstellen. Das Doppelbudget sah Abgaben- und Steuererhöhungen, die Einfuhr von Studiengebühren, die Besteuerung der Unfallrenten, eine Ambulanzgebühr, die Privatisierung von Staatsbetrieben, den Abbau von rund 13.000 Beamten und eine Pensionsreform vor. Das Frühpensionsalter wurde schrittweise um eineinhalb Jahre angehoben. Andererseits wurde das Kindergeld eingeführt. Die Arbeiter wurden den Angestellten sozialrechtlich gleichgestellt und zum Zweck der Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter wurde ein mit einer halbe Milliarde Euro dotierter Fonds eingerichtet. Die hierfür nötigen Gesetze wurden vom Nationalrat rasch verabschiedet. Die größtenteils unpopulären Maßnahmen des schwarz-blauen Kabinetts lösten Proteste und von den Gewerkschaften organisierte Streiks aus. Österreich, wo man jahrzehntelang Streiks und Zeiten der Arbeitsniederlegungen nach Sekunden zu bemessen pflegte, entdeckte eine neue Form der Streikkultur. Die Sozialpartnerschaft am grünen Tisch, jene politische Kumpanei zwischen Gewerkschafts- und Industrievertretern hatte plötzlich ausgedient. In Österreich hörte man damals ein neues Wort: „Arbeitskampf“. Aber auch von Schüssels Koalitionspartner Haider, der am 1. Mai 2000 den Parteivorsitz an Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer abgegeben hatte, kamen immer wieder Querschüsse. Die FPÖ sackte nach der Regierungsbeteiligung nämlich rapide in der Wählergunst ab und verlor eine Landtagswahl nach der anderen. Im Sommer 2002 zog Haider die parteipolitische Notbremse. Die Vizekanzlerin, der Finanzminister und der Klubobmann der FPÖ-Parlamentsfraktion, Peter Westenthaler, erklärten am 8. September 2002 ihren Rücktritt, das Kabinett Schüssel I war damit gesprengt. Bundeskanzler Schüssel nutzte eiskalt die Chance, die ihm eine total konfuse FPÖ in die Hände spielte. Er nahm Kurs auf Neuwahlen. Zwei Wochen später war der Nationalrat schon aufgelöst. Als Wahltag wurde der 24. November 2002 festgesetzt. Wolfgang Schüssel führte diesen Wahlkampf mit dem „Kanzlerbonus“ und mit dem ihm so eigenen taktischem Geschick. Im Endspurt um die Wählergunst wartete er mit einem besonders effektiven Schachzug auf. Schüssel teilte mit, daß Grasser, sein smarter FPÖ-Koalitionsminister, in einer von ihm geführten Regierung weiterhin als parteifreier Finanzminister tätig sein werde. Für die FPÖ war diese „Eingemeindung“ des (damals) beliebtesten österreichischen Politikers desaströs. Der triumphale Wahlsieg der Volkspartei kam dennoch überraschend. Bei diesen Nationalratswahlen im November 2002 fuhr Wolfgang Schüssel „seinen“ Erdrutschsieg ein. Lag die ÖVP bei den Wahlen 1999 noch auf Platz drei, schaffte Schüssel erstmals seit 36 Jahren wieder die Nummer-eins-Position. Mit 42,27 Prozent – die vor allem auf Kosten der FPÖ gingen – konnte sich die ÖVP den Koalitionspartner aussuchen. Schüssel war auf dem Höhepunkt seiner politischen Existenz. Innerhalb von zwei Jahren hatte er eine am Boden zerstörte Partei wieder an die Spitze geführt. Damals begannen die österreichischen Politologen zumindest im parteipolitischem Sinne von einer Ära Schüssel zu sprechen. Schüssel hatte nach diesem Erfolg völlig freie Hand bei seinen Koalitionsverhandlungen. Er entschied sich im Februar 2003 für eine Neuauflage von Schwarz-Blau. Oppositionelle Kritiker warfen dem Kanzler damals vor, den Weg des geringsten Widerstandes gewählt zu haben. Schließlich hatte die FPÖ vom Wähler einen schweren Denkzettel erhalten. Entsprechend dem neuen Kräfteverhältnis mußte sich die FPÖ im Kabinett Schüssel II mit dem Vizekanzleramt und den Ministerien für Verkehr, Soziales und Justiz zufriedengeben. Alle anderen Ressorts sind seit Februar 2003 fest in ÖVP-Hand. In Österreich wurde sehr bald von einer „ÖVP-Alleinregierung“ gesprochen, vor allem seit sich im Frühjahr 2005 Haiders Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ) von der FPÖ abgespalten hatte. Aus Schwarz-Blau war somit 2005 Schwarz-Orange geworden. Die Wählerlegitimation dieser Koalition wurde alsbald in Frage gestellt, schließlich hatte Schüssel aus Machtkalkül den Übertritt der ehemaligen FPÖ-Minister in das Lager des BZÖ akzeptiert, ohne nach Neuwahlen zu rufen. Aber bereits vor diesem „stillen“ Austausch des Koalitionspartners war Sand ins Getriebe des Kabinetts Schüssel II geraten. Die ÖVP rutschte in den Meinungsumfragen bereits ab dem Jahre 2003 wieder hinter die SPÖ auf Platz 2 zurück. Auch bei Landtagswahlen hagelte es Niederlagen. Am schwersten zählten die massiven ÖVP-Verluste bei den Landtagswahlen in Salzburg im März 2004 und der Steiermark im Oktober 2005. In beiden Bundesländern verlor die ÖVP ihre Führungsposition als stärkste Partei. Verloren wurden auch die Bundespräsidentenwahl im April 2004: Schüssels Kandidatin, seine ehemalige Außenministerin Benita Ferrero-Waldner, verlor die direkte Wahl gegen das sozialistische Urgestein Heinz Fischer. Schüssels Nimbus als ÖVP-Wahlsieger war gebrochen, sein Nimbus als „Macher“ und politischer „Erneuerer“ ebenso. Expertenmeinungen sprechen hier eine eindeutige Sprache. Wirtschaftsexperten sind sich einig, daß dringend Initiativen notwendig sind, um das Wirtschaftswachstum im Land zu steigern und die Arbeitslosenrate, die aktuell bei 5,2 Prozent liegt, zu senken. Im Eurostat-Vergleich der BIP-Entwicklung der 15 alten EU-Mitgliedsstaaten schneidet Österreich für die Jahre 2001 bis 2006 tatsächlich nicht besonders gut ab. Österreich ist dabei nur Durchschnitt und liegt deutlich hinter Belgien, Finnland, Griechenland, Großbritannien, Irland, Luxemburg, Schweden und Spanien zurück. „Die letzten sechseinhalb Jahre waren die seit 1945 wachstumsschwächste Periode“, erklärt der Unternehmer Hannes Androsch (Ex-SPÖ-Finanzminister unter Bruno Kreisky), der diese Wachstumsschwäche als eine Folge der „prozyklischen Politik“ sieht: Das Wirtschaftswachstum wurde durch ein rigides Sparprogramm zusätzlich gebremst. Erste Priorität müßten daher eine wachstumsfördernde Politik und die Senkung der Arbeitslosigkeit haben. Auch Wilfried Altzinger, Professor für Geld- und Finanzpolitik an der Wirtschaftsuniversität Wien, sieht die Verbesserung der Beschäftigungslage als zentrale Frage, die Schüssel nicht lösen konnte: „Wir haben trotz guter Konjunktur eine relativ hohe Arbeitslosigkeit. Die österreichische Bundesregierung beschönigt diese Daten obendrein durch die enorm hohe Anzahl an Personen in Schulungen, die nicht zu den Arbeitslosen zählen, sowie durch Teilzeit- und geringfügig Beschäftigte.“ In der Ära Schüssel war die Bundesregierung vor allem äußerst zurückhaltend mit öffentlichen Investitionen. 1995 lag die Investitionsquote noch bei 3,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und damit über dem EU-15-Durchschnitt von 2,6 Prozent. Zuletzt ist die Quote jedoch auf 1,1 Prozent abgesunken, die Hälfte des aktuellen EU-Durchschnittswertes. Aber auch private Investoren haben sich zurückgehalten. Ein Grund dafür ist auch, daß es seit 2002 keinen Investitionsfreibetrag und auch keine anderen steuerlichen Begünstigungen für Investitionen mehr gibt. Doch auch im Bereich der Bildung gibt es massive Probleme. Schüssels Bildungsministerin Elisabeth Gehrer mag die Ergebnisse der Pisa-Studie für überbewertet halten, Bildungsexperten sehen das schlechte Abschneiden Österreichs im internationalen Vergleich jedoch als Alarmsignal. „Vom Ziel, daß alle Schüler nach Verlassen der Volksschule lesen können, sind wir weit entfernt“, meint etwa die Wirtschaftssprecherin der Grünen und zitiert damit erschütternde Ergebnisse der Pisa-Studie, wonach „jeder sechste Grundschüler (erste vier Schulstufen), nicht sinnerfassend lesen kann“. Auch daß an den Unis heute weniger Studierende lernen als 1995, paßt nicht wirklich zu dem Bild Österreichs als Zentrum für Technologie und Innovation. Für den 61jährigen ist das Regieren am Ende seines sechsten Kanzlerjahres also zweifellos schwieriger geworden. Der ÖVP-Chef sitzt aber dennoch trotz diverser Niederlagen – die auch zum Teil heftige innerparteiliche Debatten auslösten – fest im ÖVP-Partei-Sattel. Auf dem letzten Parteitag der Volkspartei wurde er mit 93,1 Prozent als Bundesparteiobmann wiedergewählt. Er ist heute der am längsten dienende ÖVP-Vorsitzende. Wenn Wolfgang Schüssel nun auch noch am 1. Oktober seine ÖVP zu einem Wahlsieg mit anschließender Kanzlerschaft führen kann, dann dürfen die Politologen Österreichs wohl endlich mit ihrer Aufarbeitung der „Ära Schüssel“ beginnen. Stichwort: Wolfgang Schüssel Geboren wurde Wolfgang Schüssel am 7. Juni 1945 in Wien. Im Jahr 1968 begann der Jurist (Dr.iur.) seine politische Karriere als Sekretär des Parlamentsklubs der Österreichischen Volkspartei (bis 1975). 1979 wurde Schüssel Mitglied des Nationalrates (Parlament) und war zugleich Generalsekretär des Österreichischen Wirtschaftsbundes (1975-1991). Zum Vorsitzenden der ÖVP wurde er im April 1995 gewählt. Im Anschluß bekleidete er in den Kabinetten Vranitzky und Klima (beide SPÖ) das Amt des Vizekanzlers und Außenministers. Am 4. Februar 2000 wurde er zum Bundeskanzler gewählt.

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