Wie andere Bereiche menschlicher Erkenntnis kennt auch die Geschichtswissenschaft eine Art Unschärferelation. Je intensiver ein bestimmtes Geschehen betrachtet und aus allen Winkeln ausgeleuchtet wird, desto stärker ist zu beobachten, wie das Bild nicht klarer wird, sondern verschwimmt und zwischen scheinbaren und wirklichen Widersprüchen hin und her schillert. Die unübersehbaren Massen an Literatur zum Dritten Reich lösen dieses Problem nicht selten durch Reduzierung auf einfache Botschaften und Dämonisierung. So wird zwar nichts zur Verschärfung des Bildes beigetragen, wohl aber zur Schärfung der moralischen Botschaft. Was nun Wolfgang Curilla, den ehemaligen Hamburger Senator für Umwelt, Finanzen und Justiz, dazu bewogen hat, sich auf dem reich beackerten Feld der Holocaustforschung mit einem eigenen Monumentalwerk zu Wort zu melden, bleibt im dunkeln. Im einem sehr dünn ausgefallenen Vorwort gibt der Autor als Motiv lediglich an, Vergessen und Wiederholung verhindern zu wollen. Ob diese Anliegen mit einer Darstellung der gewählten Art gefördert werden müssen, mag man bezweifeln. Curilla holt weit aus. Er beginnt nicht im Baltikum, sondern bei der Genese der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland und mit einer Vorgeschichte des „Unternehmens Barbarossa“. Seine Gewährsmänner für diesen Teil sind die üblichen Verdächtigen des deutschen Historikerbetriebs, und so sind auch seine Irrtümer die bekannten und gewaltigen. Anders als der Autor schreibt, hat Heinrich Himmler im Januar 1941 auf der Wewelsburg nicht von der Tötung von dreißig Millionen Slawen im kommenden Feldzug gesprochen. Einen entsprechenden Hungerplan gegen die russische Bevölkerung hat es ebensowenig gegeben wie die Absicht, russische Kriegsgefangene millionenfach sterben zu lassen. Zudem ist bei Hitlers 1937 im Hoßbach-Protokoll verzeichneten Absichten mit keinem Wort davon die Rede, Lebensraum in Polen oder gar Rußland erobern zu wollen, wie Curilla schreibt. Ganz im Gegenteil sollte nach dieser Aufzeichnung die „deutsche Raumfrage“ unter Vermeidung eines Krieges mit Polen und durch den Anschluß Österreichs und der Tschechei für Generationen „gelöst“ werden. Da er diesen Hintergrund nicht kennt, kann sich der Autor letztlich nicht entschließen, präventive Gründe für den deutschen Angriff auf Rußland von 1941 anzuerkennen. Immerhin spricht er die inzwischen vorliegenden Informationen über sowjetische Angriffsvorbereitungen offen an und räumt einen klaren Zusammenhang zwischen den Angriffsplanungen des Generalstabschefs Schukow, der Umstellung der innersowjetischen Propaganda und Stalins Ankündigungen eines bevorstehenden Offensivkriegs durchaus ein. Im wesentlichen legt Curilla auszugsweise Abschriften aus deutschen Gerichtsakten der Nachkriegszeit vor, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Er dokumentiert, was dort über die Ordnungspolizei ausgesagt und in den abschließenden Gerichtsverfügungen festgehalten wurde. Nicht immer ist dabei klar erkennbar, was lediglich abgeschriebenes oder umformuliertes Zitat ist und wo der Autor selbst urteilt. Eine Überprüfung der Aussagen auf innere Folgerichtigkeit nimmt er ebenfalls nur selten vor. Obwohl es ein juristischer Gemeinplatz ist, daß Strafverfahren schwierig und fragwürdig sind, wenn sie nur auf Zeugenaussagen beruhen, sieht der Autor hier kaum ein Problem. Lediglich den Angeklagten unterstellt er eingangs, nicht immer bei der Wahrheit geblieben zu sein. Dabei geht gerade aus seiner Darstellung deutlich hervor, wie kraß sich Aussagen aller Seiten wiedersprechen. So kann es wie im Fall Baranowitschi vorkommen, daß manche Zeugen von zweihundert jüdischen Männern sprechen, die zusammengetrieben und dann auf Intervention eines Wehrmachtoffiziers wieder nach Hause geschickt worden seien, andere dagegen von bis zu dreitausend Männern, die nicht nur zusammengetrieben, sondern auch erschossen worden seien. Dies ist ein krasses Beispiel, aber kein ganz ungewöhnliches. Die Zahlenangaben zu den einzelnen Fällen schwanken nicht selten um das Zehnfache. Curilla entscheidet hier letztlich nach Willkür, was er für „realistisch“ hält. Er hält sich aber zu Recht zugute, nicht immer „die höchste Zahl“ zu nehmen, wie dies andere Autoren bevorzugt tun. Dennoch bleibt bei den Angaben über Opferzahlen die Willkür auch bei ihm der ständige Begleiter. Insgesamt errechnet er schließlich eine Million Personen, überwiegend Juden, die direkt oder indirekt durch die Verantwortung der deutschen Ordnungspolizei getötet worden seien. Davon offenkundig selbst überrascht, betont er eigens, es habe beim Holocaust „auch andere Täter“ gegeben. Es wird sich trotz aller Kritik wenig-stens für die weitere Überprüfung als nützlich erweisen, die Gerichtsakten der Nachkriegszeit hier in komprimierter Form vorliegen zu haben. Was bei der Lektüre der zahllosen Behauptungen über Orte, Wälder, Hügel, Einheiten, Opferzahlen und Einzeltäter auf der Strecke bleibt, ist zunächst das Bild der Genozids als eines „industriellen“ Verbrechens. Auch wenn die Einzelfragen unscharf bleiben, ist dies ein Punkt, über den in Zukunft nachgedacht werden wird. Wolfgang Curilla: Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrußland 1940-1944. Schöningh Verlag, Paderborn 2006, gebunden, 1.041 Seiten, Abbildungen, 68 Euro
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