Die Türkei erfüllt die Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU nicht, die EU hätte davon keinen Vorteil und kann eine Erweiterung über ihre geographischen Grenzen hinaus auch nicht verkraften. Zu diesem Schluß kommt eine aktuelle Studie des Osteuropa-Instituts München (OEI) im Auftrag der Bayerischen Staatsregierung: „EU-Member Turkey? – Preconditions, Consequences and Integration Alternatives“ (forost-Arbeitspapiere Nr. 25). Die Autoren, Wolfgang Quaisser vom OEI und Steve Wood vom National Europe Center der Australian National University, zerpflücken darin die Empfehlung der EU-Kommission für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, indem sie ihr Zahlen und Fakten entgegensetzen. In der OEI-Studie werden Zweifel an der Erfüllung der Kopenhagen-Kriterien (Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Grundrechts- und Minderheitenschutz) angemeldet, da der Wortlaut der eilig verabschiedeten türkischen Reformgesetze von der Umsetzung noch weit entfernt sei. Zwar attestiert man der Türkei „glaubwürdige wirtschaftliche Reformen“, doch werde die Erfüllung der wirtschaftlichen Kriterien noch viele Jahre in Anspruch nehmen. Der östliche Landesteil sei mit einem „Entwicklungsland“ vergleichbar. Daß die Türkei, gemessen an den ökonomischen Kriterien, kaum schlechter als die EU-Kandidaten Rumänien oder Bulgarien dastehe, sage nicht viel: Das seien die falschen Referenzländer. Die Türkei sei zwar von der Bevölkerungszahl her so groß wie die zehn osteuropäischen EU-Neulinge zusammengenommen, erwirtschafte aber nur die Hälfte von deren Bruttoinlandsprodukt. Selbst bei Wachstumsraten von jährlich fünf Prozent, deutlich über dem EU-Durchschnitt, werde die Türkei „ungefähr vier Jahrzehnte brauchen, um 75 Prozent des Einkommensniveaus der EU-15 zu erreichen“. Im Human Development Index, der die Entwicklung unter Einbeziehung etwa von Bildungsstandards mißt, stehe die Türkei auf Platz 88 mit Turkmenistan und Paraguay auf einer Stufe. „Die relevanten Indikatoren deuten darauf hin, daß es für die EU einfacher wäre, Mexiko zu integrieren als die Türkei.“ Was die Empfehlung der EU-Kommission mit „Asymmetrie“ der „positiven wirtschaftlichen Auswirkungen der türkischen EU-Mitgliedschaft“ umschrieben hat, hinterfragt das OEI mit Fakten: Der Nutzen wird ambivalent für die Türkei und Null bzw. Minus für die EU sein. Zwar sei nachvollziehbar, daß die Türkei sich vom Beitritt mehr Einfluß auf Entscheidungen eines „Clubs“ erwarte, von dessen Handlungen sie massiv betroffen werde. Da Handelsschranken durch die Zollunion bereits weitgehend beseitigt seien, wären die wirtschaftlichen Auswirkungen jedoch begrenzt. Den zu erwartenden großen finanziellen Transferleistungen stünden beträchtliche Risiken durch nötige Strukturveränderungen in der Türkei gegenüber: Arbeitslosigkeit, soziale Verwerfungen, zusätzliche Belastungen durch Sozial- und Umweltstandards. Der Beitritt zur EU-Agrarpolitik etwa werde „zwar Vorteile für türkische Verbraucher, aber Nachteile für Landwirte“ bringen, die auch durch Brüsseler Geld nur abgemildert werden könnten. Gerade diese Transferzahlungen machen den Türkei-Beitritt für die EU teuer. Das Brüsseler Institut Friends of Europe rechnet für die ersten drei Jahre nach einem EU-Beitritt der Türkei 2015 mit Gesamtkosten von 45 Milliarden Euro – mehr als die 40 Milliarden, die für die jetzige Erweiterungsrunde bis 2006 veranschlagt werden. Als größtes und ärmstes Land wird die Türkei nach einem Beitritt auch Anspruch auf die höchsten Subventionen haben. Die Prognose von 14 Milliarden Euro pro Jahr, die das OEI im Frühjahr in einer – nie veröffentlichten – Studie für das Bundesfinanzministerium aufgestellt hat, wird in dieser Studie gewaltig nach oben korrigiert: bei vollständiger EU-Integration zum Beitrittstermin 2014 auf 20,9 Milliarden Euro pro Jahr. Auch die EU-Kommission hat nach langem Zögern inzwischen eine Kostenprognose herausgegeben, die für das Jahr 2025 einen Nettotransfer von 27,6 Milliarden Euro jährlich errechnet – viermal so viel wie für das heute größte Empfängerland Spanien. Allein auf Deutschland entfielen nach dem OEI-Szenario 4,2 Milliarden Euro und nach dem Kommissionsszenario fünf Milliarden Euro zusätzliche Belastung pro Jahr. Vorhersehbare Folge: „Wohlfahrtseinbußen für alte und neue Mitgliedstaaten (…), wenn Transferleistungen an die Türkei von woanders her umgeleitet oder die Steuern erhöht werden“. Oder, da eine Bereitschaft zu solchen Opfern kaum wahrscheinlich sei, „Sonderkonditionen“ für die Türkei, die diese nicht akzeptieren will – weitere Konflikte wären programmiert. Belastungen verspricht auch das Migrationspotential – allein nach Deutschland könnten in den drei Jahrzehnten nach einem Beitritt bis zu drei Millionen türkischer Einwanderer zusätzlich kommen. Und: derzeit hat die Türkei 70 Millionen Einwohner – in zwanzig Jahren könnten es 15 Millionen mehr sein. Um von den finanziellen und wirtschaftlichen Problemen abzulenken, führen die Beitrittsbefürworter vor allem politisch-strategische Argumente an. Auch diese zerpflückt die OEI-Studie. Daß der Erfolg des türkischen Reformprozesses von der EU-Beitrittsperspektive abhänge, halten sie für eine „kühne These“, zumal türkische Politiker selbst betonten, daß ihre Reformen auch im Eigeninteresse durchgeführt würden. „Melodramatisch“ sei die Einlassung von Außenminister Joseph Fischer, die Aufnahme eines modernen islamischen Staates sei der „D-Day im Kampf gegen den Terror“: „Der eher fragwürdige Status des Landes im arabischen Mittleren Osten sowie die gespannten Beziehungen mit vielen seiner Nachbarn bedeuten, daß jedwede Vorstellung, die Türkei könne als eine Art Vorbild dienen, gegenwärtig kaum zu unterstützen ist.“ Im Gegenzug für diese zweifelhaften „Vorteile“ verliere die EU durch den Türkeibeitritt an innerem Zusammenhalt. Die Heterogenität werde verstärkt und die Konsensbildung infolge der Gewichtsverschiebung hin zu den wirtschaftlich schwächeren Ländern erschwert. Das Ziel der „wettbewerbsfähigsten Region der Welt“ („Lissabon-Prozeß“) werde dadurch ebenso in Frage gestellt wie das Ziel der politischen Integration innerhalb der EU. Die Studie zeigt auch Alternativen auf: Als „externer Anker“ für Stabilität und Reformprozeß in der Türkei seien internationale Organisationen wie IWF, OECD und Weltbank wesentlich besser geeignet. Die „europäische Perspektive“ könne im übrigen genausogut durch eine „privilegierte Partnerschaft“ oder durch eine „erweiterte assoziierte Mitgliedschaft“ mit regelmäßiger Teilnahme ohne Stimmrecht an Sitzungen der EU-Institutionen gewahrt werden. Die OEI-Studie steht im Internet unter www.bayern.de/Europa/Tuerkeistudie