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Was man nicht wissen muß

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Mit der „Bildungslüge“ und dem forschen Versprechen einer Erklärung, „warum wir weniger wissen und mehr verstehen müssen“, im Titel spielt Werner Fulds Buch auf die vielbeschriebene Bildungskatastrophe und den schier unauslöschbaren Dauerbrenner Pisa-Studie an. Er suggeriert damit eine bislang unerhörte Lösung im Debattenringelreihen um Lernen und Lehren und deren Kanonisierung. Per Titelrückseite und Vorwort wird ein streitbarer Ansatz angekündigt: Nicht Goethes „Faust“, nicht der Name des letzten deutschen Kaisers („Bildungswust“) gehörten demnach in die Lehrpläne, sondern das Wissen darüber, wie „man ins Internet kommt“ und sich „als Manager im Ausland zu benehmen hat“. Die bürgerliche Grundlagenvermittlung des humanistischen Gymnasiums, den Humboldtschen Begriff der Allgemeinbildung, die Notwendigkeit des Mathematikunterrichts („nicht wiederverwendbarer Müll“) – als dies hält Fuld für hoffnungslos veraltet. „Think global“ dient ihm als Devise: nur wer die Bequemlichkeit liebe, studiere in heimischen Gefilden und beziehe später irgendwo ein Eigenheim, wer dagegen die Parole „Zukunft-Denken“ wahrhaft verinnerlicht habe, stelle sich tunlichst auf ein modernes Nomadendasein ein – die weite Welt als Zuhause. Das unnütze Wissen der Schule von heute und das „Stattdessen“ einer pädagogischen Zukunft, das sollte der rote Faden des Buches sein, mit dem sich Fuld aber gehörig verstrickt in seinem nie enden wollenden Fluß von Aphorismen, Aufgegriffenem und Anekdötchen. Suggestiv wird der Leser dabei direkt angesprochen: „Erinnern Sie sich noch an die erste Staffel von ‚Big Brother‘?“ Ein anderer Titel könnte Fulds Buch daher genauer treffen, etwa: „Meine Meinung. Was ich schon immer mal ausführen wollte.“ Der notorische Vielschreiber und Autor von Büchern wie dem „Lexikon der Fälschungen“, „Lexikon der letzten Worte“ und dem „Lexikon der Wunder“ hat eine Menge zu sagen, und er tut dies wortgewandt und unterhaltsam – keine Frage. Man liest belustigt seine Suada auf Mathematiker als „Betriebsunfälle der Natur“ oder seine Auslassungen gegen die Minderheitsprivilegien der Sorben: „Ich müßte lügen, wenn es mir leid täte, aber die Zukunft gehört nicht dem Sorbischen. Es ist eine aussterbende Sprache, und ihre Pflege dient nur dem Kult der Vergangenheit – und dazu genügt es, wenn ein paar Leute in alten Trachten Umzügen veranstalten.“ Fulds Weigerung, beim Thema zu bleiben, ist deutlich. Er schweift ab, reiht Exkurs an Exkurs, und vor allem argumentiert er ganz offensichtlich paradox. Seine Ansicht, der Abiturient der Zukunft müsse weder Goethe noch Shakespeare kennen, geschweige denn Griechisch können, korreliert überdeutlich mit den Begründungen, die Fuld fast ausnahmslos aus dem Fundus humanistischer Bildung schöpft. In langen Passagen referiert er Bildungstheorien vergangener Jahrhunderte oder zieht detaillierte historische Kenntnisse heran, um seine Forderung nach ausschließlich „zeitnaher“, pragmatisch orientierter Bildung zu untermauern. Wissen, das kein Mensch braucht: der Jurist, der in „Wetten daß …?“ sämtliche Fernsehsendungen des Jahres 2002 mit genauer Sendezeit benennen kann, die theoretische Auswirkung auf die Flugbahn des Balles beim Tischtennisspiel auf dem Mars oder die 1.241 Milliarden Stellen nach dem Komma der Kreiszahl Pi – kein Mensch würde die Kanonisierung solcher Kenntnisse fordern. Und doch rennt Fuld mit solchen offenkundig pittoresken Wissenschaftsmeldungen und den Beweisen ihrer Gleichgültigkeit seitenlang durch offene Türen. Dazu zählen Gemeinplätze wie das seit Jahrzehnten von der Unterrichtsrealität überholte Klischee vom Geschichtsunterricht, der das „öde Lernen von Jahreszahlen“ verlange – dabei erweist sich heute die längst gängige Praxis einer rein strukturell vorgehenden Geschichtsvermittlung und die populäre „Geschichte von unten“ als problematisch und indoktrinär. Immerhin interessant ist Fulds Ansinnen, mit den wohlbekannten düsteren Kapiteln der deutschen Geschichte zu brechen. Dabei spricht aus seinem „Schlußstrich“-Plädoyer kein reaktionärer, sondern ein um jeden Preis fortschrittlicher Geist. Das wird zuhauf bewiesen: So solle – Fuld scheut sich nie vor entlegenen Beispielen; diesem hier widmet er ein eigenes Kapitel – die „Leichenrede des Perikles“ keinesfalls Einzug in den Bildungskanon halten, da diese „zum hunderttausendfachen Leichengepäck deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg gehörte“. Mit ähnlichen Begründungen – „faschistoid“ – argumentiert Fuld auch gegen den Denkmalschutz als typisch deutsches Anliegen. Solche eindeutigen Distanzierungen ermöglichen dem Autor, der eilig bekundet, in Auschwitz „eine Reihe von Vorfahren verloren“ zu haben, ein gewagtes Plädoyer: Man solle das Fach Geschichte abschaffen. „Urlaub von Auschwitz“ fordert Fuld und begründet ausführlich: „Das Menetekel ‚Nie wieder!‘ blockiert die Zukunft, weil es in jede Entscheidung schon den Keim des Bösen gelegt sieht. (…) Man kann Kinder nicht zu verantwortungsbewußten Menschen erziehen, indem man ihnen ständig die Abscheulichkeiten und Verbrechen fremder Leute vor Augen hält.“ Hier wie insgesamt überrascht Fuld mit Ungewohntem – den Kern trifft er nicht. Werner Fuld: Die Bildungslüge. Warum wir weniger wissen und mehr verstehen müssen. Argon Verlag. Berlin 2004, 303 Seiten, gebunden, 19,90 Euro

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