Die achtteilige Reportageserie in dieser Zeitung über Großfamilien hatte nichts weniger als den Anspruch, in irgendeiner Weise repräsentativ zu sein: Zum einen fehlten die Migrantenfamilien, die im Bundesschnitt bei den sieben- und mehrköpfigen Haushalten überwiegen, zum anderen wurden jene Großfamilien außer acht gelassen, die mitunter in greifbarer Nachbarschaft liegen, wo aber das Negative am Beispiel überwiegt: die Klassenkameradin der Tochter, deren sechstes Geschwister soeben geboren wurde – eine Familie mit einer Mutter und sieben Vätern, genauso wie die quasi Alleinerziehende Mutter von fünf Töchtern, deren Mann längst beinahe ganzjährig in die „Montage“ im Ausland geflüchtet ist und deren Kinder winters wie sommers das gleiche Hemd, nie Mütze und Schal tragen, ebenfalls das evangelische Pfarrhaus der Nachbargemeinde, wo die vier Kinder der Geistlichen auch jeweils einen anderen Vater Papa rufen und der jüngste Erzeuger aus der Altersklasse des ältesten Kind kommt. Die acht an dieser Stelle vorgestellten Familie sind glückliche Beispiele selbstgewählten Kinderreichtums. Hier gab es nichts zum Positiven hin zu verbrämen, hier herrschten Segen und Freude vor den Schattenseiten, über die jede der Familien freilich auch zu berichten wußte: finanzielle Nöte und Sorgen um Erziehung und Charakterbildung in einer Zeit, die nur Soziologen als Ära des „Wertepluralismus“ verbrämen können. Früher galt Familienpolitik noch als Staatspolitik Die Rede Gerhard Schröders 2003 zum fünfzigjährigen Bestehen des Familienministeriums war in mancher Hinsicht vielsagend: „Man kann Gerechtigkeit auch auf einem sinkenden Wohlstandsniveau schaffen. Aber genau das wollen wir nicht.“ Vielleicht müssen wir genau das – was schwerfällt, wenn familiäres Leben nur als eine Option unter vielen denkbaren und gleichzubewertenden betrachtet wird. Wie weit sich das Familienministerium von seinen Anfängen entfernt hat, wird deutlich, wenn man die Erfolge des ersten Familienministers Franz-Josef Wuermeling mit der Auflösung vergleicht, die drei Jahrzehnte später Rita Süssmuth im Namen derselben Partei betrieb. Auch Wuermelings Politik – zur Zeit des ersten Bundestags, damals noch ohne Familienministerium, etablierte er eine parteienübergreifende „Kampfgruppe für die Familie“ – war es zu verdanken, daß die Geburtenziffer von rund 780.000 im Jahr seines Amtsantrittes auf rund 950.000 1960 anstieg, daß die Zahl der Ehejahrgänge mit drei und mehr Kindern von 28 auf 36 Prozent anwuchs. Daß der bekannte „Wuermeling-Paß“, die Bahnfahrkartenermäßigung für Kinder aus kinderreichen Familien, abgeschafft wurde, ist nur ein sichtbares Zeichen einer familienfeindlichen Politik, die den revolutionären und zersetzenden Schriften von Reich, Engels und Horkheimer zum Durchbruch verhalf. Unter Wuermeling galt Familienpolitik noch als Staatspolitik und weniger als Wahrnehmung sozialer Fürsorge, während heute via ökonomischer Abwägungen Familien zu Funktionären eines Kollektivs degradiert werden, mehr als „Interimgruppen“ angesehen werden denn als Kraftquell und vitale Urzelle des Staates. Die SPD – und unter der Hand längst auch die Konkurrenz – hat sich einen erweiterten Familienbegriff aufs Banner geschrieben. „Familie heute“ nennt Ministerin Ulla Schmidt „alle die, die aus einem gemeinsamen Kühlschrank essen“. Die Zuweisung Gerhard Schröders von Familienpolitik als zu vernachlässigendem „Gedöns“ (1998) ist vergessen, längst erscheint das Problem eines Kindermangels als Konsensangelegenheit der gesamten relevanten politischen Bandbreite. Mit achteinhalb Kindern auf 1.000 Einwohner werden hierzulande viel zu wenig Kinder pro Jahr geboren, um das wirtschaftliche System – und um diese Dimension „Humanvermögen“ geht es ja ausschließlich – aufrechtzuerhalten. Die zwischen Christlichen Parteien, Liberalen und Linken seit Jahren ausgefochtene Kontroverse, ob schlichter Geldmangel oder die mangelnde Vereinbarkeit von Kind und Beruf sei, was die Deutschen in Gebärstreik treten lasse, ist dabei ein Scheingefecht: weder das eine noch das andere verspricht eine Lösung des Problems – sprich, eine Konjunktur des Kinderwunsches, oder besser: die Erfüllung dieses Wunsches, der laut statistischen Erhebungen seit Jahrzehnten unverändert bei immerhin drei Kindern (pro Frau, Männer liegen zunehmend darunter) liegt. Der vielgepriesene Blick über Ländergrenzen ist selektiv und trügerisch, in den europäischen Spitzenländern, die Geburtenrate betreffend, geht der in Wahrheit nur geringe Anstieg der Neugeborenen etwa mit einer stark zunehmenden Scheidungsrate einher und ist nie monokausal mit einem Angebot an Ganztagsbetreuung zu erklären. Bereits ein Blick in den Osten der Republik reicht, um die Rechnung „Ermöglichung von Ganztagsbetreuung = Geburtensteigerung“ obsolet werden zu lassen: In Brandenburg etwa, wo jedem zweiten Kleinkind ein Krippenplatz zur Verfügung steht, werden signifikant weniger Kinder geboren als in Bayern oder Baden-Württemberg, obwohl hier nur etwa ein Prozent aller Unter-Dreijährigen krippenversorgt werden können. Einen Betrag von sage und schreibe 1.188 Euro an finanziellem Aufwand pro Kind und Monat rechnet Familienministerin Renate Schmidt vor – die Lebenshaltungskosten eines eventuellen Studiums seien dabei nicht einbezogen. Jeder kann zusammenzählen, welche Summe demnach die hier porträtierten Großfamilien mit ihren fünf bis zwölf Kindern aufzuwenden hätten. Selbst das Existenzminimum, das vom Bundesfamilienministerium auf 288 Euro beziffert wird, ergibt nach dieser Rechnung bei drei und mehr Kindern einen gehörigen Batzen, der die Redeweise vom „Luxus Kind“ plausibel erscheinen läßt. Dennoch kann auch der Ruf nach erhöhten finanziellen Zuwendungen — was als Modell der christlichen Parteien gelten darf – nicht als Erfolgsrezept betrachtet werden. Zum einen ist diese Forderung ein Hohn gegenüber vorangehenden Generationen, die Kindergeld allenfalls als symbolischen Kleckerbeitrag, Erziehungsgeld, Eigenheimzulagen und Wohngeldprämien schon gar nicht kannten – und dennoch stets mehr Kinder gebaren als die heutige 1,3-Kinder-Durschnitssmutter zwischen Spülmaschine und Mikrowelle. Ein anderes, durchaus streitbares Argument zitiert Renate Schmidt: Familienhilfe müsse eine ökonomische Grenze haben, und zu großzügig bemessene Alimente könnten dazu führen, zusätzliche Kinder in die Welt zu setzen, um „den Branntweinkonsum des Erzeugers zu maximieren“. Reflexmäßig mag man hier gern vehement widersprechen: Nicht wegen, sondern trotz finanzieller Aspekte gibt doch der gesunde Menschenverstand dem Kinderwunsch statt! Die Summe von bereits heute rund 500 Euro allein an Kinder- und Erziehungsgeld sowie zusätzlicher Sozialhilfe mag jedoch für einen Menschen ohne berufliche und sonstige Perspektiven und ohne Erziehungsvorsatz durchaus als Anreiz dienen. Gesunde Familien gebären weder aus Angst vor Armut keine Kinder, noch gebären sie welche aus Gründen des finanziellen Anreizes. Je ärmer, desto kinderreicher das Land, könnte man als Pauschalregel aufstellen, und demnach scheint Winston Churchills Wunsch für die besiegten Deutschen – sie mögen „fett und impotent“ werden – längst europaweit in Erfüllung gegangen sein. Also, woher und warum Kinder im Zeitalter weitreichender Möglichkeit und flächendeckenden Gebrauchs hormoneller Manipulation? Die vorindustriellen Zeiten, in denen Kinder Nutzen statt Belastung versprachen, sind nun einmal unwiderruflich vorbei. Die hier vorgestellten kinderreichen Familien haben sich selbst ermächtigt und bewußt dem urmenschlichen Bedürfnis nach Verwirklichung in eigenen Kindern stattgegeben, sie erwiesen sich hiermit als mündige Bürger wider den Zeitgeist. Von solchem Selbstbewußtsein, solcher Mündigkeit auszugehen, wäre illusorisch. Der Mensch ist nicht nur Säuge-, sondern vor allem Herdentier. Er folgt als solches dem Vorbild, einem Image, dem, was die Soziologie role model nennt. Eine Imagekampagne ist nicht zu erwarten Das erklärt auch den vielbeschriebenen und eigentlich unerklärlichen punktuellen Babyboom an solch szenigen Plätzen wie Prenzlauer Berg, Dresden Neustadt oder in zahlreichen westdeutschen Neubausiedlungen, wo sich das dreiköpfige Vater-Mutter-Kind im Straßendurchschnitt unversehens in der Rolle einer deutlich kinderarmen Familie finden kann. Daß die Deutschen kinderfeindlich seien, ist ein gern gebrauchter, selten hinterfragter Gemeinplatz: Wo Straßenzüge von Kinderlachen erfüllt sind, wo junge Mütter selbstbewußt mit dickem Bauch und Kleinkind an der Hand dauerpräsent sind, läßt die Nachahmung nicht auf sich warten. So ist auch das häufig angetroffene Phänomen, daß im Freundeskreis binnen kurzer Zeit reihenweise Paare zu Eltern werden, nicht allein mit allenthalben plötzlich tickenden „biologischen Uhren“ zu erklären, sondern vielmehr als vitale Kettenreaktion anzusehen. Eine wirksame Imagekampagne ist weder von seiten der Regierung noch den Leitmedien zu erwarten – das vorherrschende und propagierte Menschenbild läßt sich schwer nur mit der klassischen, kinderreichen Familie verbinden. Vielleicht folgt das einer inneren Richtigkeit: Jede Gesellschaft gebiert sich die Zukunft, die ihr zusteht. Konstantin: Jede Gesellschaft gebiert die ihr zustehende Zukunft