Wenige Tage vor dem für den 14. September anberaumten Refe-rendum über eine künftige EU-Mitgliedschaft herrscht in Estland helle Aufregung über ein „Kuckucksei“, das Brüssel der nördlichsten Baltenrepublik (aber auch anderen EU-Kandidaten) ins Nest gelegt hat. Die EU hat für den kleinen Grenzverkehr an ihren Außengrenzen die Einführung eines Dauervisums vorgeschlagen, welches in einem Gürtel von beiderseits je 50 Kilometer Gültigkeit haben soll. Damit sollen Bürger von Nicht-EU-Staaten wie etwa Weißrußland, die Ukraine oder Albanien bis zu fünf Jahre lang berechtigt sein, die EU-Grenze ohne weitere Formalitäten zu überschreiten. Damit sollen Handel und menschliche Kontakte entlang der Schengen-Grenze erleichtert werden. In Estland hat diese Ankündigung allerdings wie eine Bombe eingeschlagen, denn der in Frage kommende Partner ist hier die Russische Föderation, mit der die Regierung in Tallinn/Reval eine ganze Reihe ungelöster Probleme hat. Visafreie 50-Kilometer-Zone macht Ostgrenze löchrig Da Estland ein sehr kleines Land ist – die Entfernung von der Hauptstadt zur russischen Grenze beträgt weniger als 200 Kilometer -, sieht auch die auf den ersten Blick so vernünftig anmutende 50-Kilometer-Zone, innerhalb derer sich die östlichen Nachbarn visafrei bewegen dürfen, bedenklich aus: von dieser imaginären Linie bis an die estnische Westküste und in die Hauptstadt dauert die Fahrt höchstens zwei bis drei Stunden. Reisende aus dem Osten – von denen die estnische Regierung annimmt, daß sie nicht immer aus harmlosen Motiven nach Estland kommen könnten – hätten es leicht, unterzutauchen. Estland könnte es sich vermutlich kaum leisten, hinter der nun von Brüssel durchlöcherten Schengen-Grenze eine zweite Grenzlinie aufzubauen, um unliebsame Besucher festzuhalten. Natürlich versichert die EU-Kommission, dieser neue, erweiterte kleine Grenzverkehr solle auf „ehrliche“ Besucher beschränkt bleiben. Wie das allerdings kontrolliert werden soll, bleibt ein Rätsel. Da sich ein großer Teil der russischen Bevölkerung Estlands in Grenznähe (Narwa, Kohtla Järve) konzentriert, würden Russen aus dem Mutterland mit ihren Landsleuten in Estland innerhalb der 50-Kilometer-Zone kommunizieren können, ohne daß die Regierung in Tallinn irgendeine Kontrolle hätte. Die Esten befürchten, daß der potentiell gefährliche kleine Grenzverkehr noch vor Mai 2004 in Kraft treten wird: das bedeutet Estland würde nicht einmal mit darüber abstimmen dürfen, weil es zu diesem Zeitpunkt noch nicht EU-Mitglied wäre. Wie tief der „russische Stachel“ in Estland sitzt, zeigte dieser Tage ein Brief, den Ex-Premier Siim Kallas an die Mitglieder seiner Reform-Partei richtete (die Mitglied der liberalen Internationale ist). Der 54jährige Ex-Außenminister berichtete über sein Treffen mit der russischen Vizepremierministerin Walentina Matwijenko. Diese sei nicht nach Estland gekommen, „um die sachliche Zusammenarbeit zu fördern, sondern um immer wieder Forderungen vorzutragen, welche die Souveränität Estlands verletzen“. Das Verhalten beweise, setzt Kallas fort, „daß Rußland Estland als einen unnützen Kleinstaat ansieht, dessen Existenz zu dulden es wegen der internationalen Öffentlichkeit und eigener Schwäche gezwungen ist“. Kallas erinnert daran, daß in Moskauer Medien immer wieder der Begriff von einem künftigen „starken Rußland“ auftaucht: „Es ist bekannt, daß Rußland am größten und stärksten zu Zeiten Stalins war.“ Kallas fragt die Esten, ob sie sich bewußt seien, daß die Melodie der Nationalhymne der Russischen Föderation identisch mit der Hymne der Sowjetunion sei. Rußland habe auf die von Jelzin eingeführte schöne Melodie Glinkas („Gott schütze den Zaren“) verzichtet und sie durch die „Stalin-Hymne“ ersetzt: „Das kann keine andere Erklärung haben als den Wunsch, das Imperium aus Stalins Zeiten wiederherzustellen.“ Es sei „mindestens erniedrigend“, wenn bei Staatsbesuchen Politiker aus Ländern, die früher zur UdSSR gehörten, sich beim Erklingen der „Stalin-Hymne“ von ihren Plätzen erheben müßten. Ein militärischer Überfall Rußlands auf Estland sei in der heutigen Situation unwahrscheinlich, meint Kallas – aber es gebe viele Möglichkeiten, die Selbständigkeit Estlands zu schwächen. Da sei der „Kampf um unsere Staatsbürgerschafts- und Sprachpolitik“ – bisher weigert sich Estland, allen Bewohnern russischer Nationalität pauschal die estnische Staatsbürgerschaft zu verleihen. Sollte Estland nicht der EU beitreten, „hätten wir keinen mächtigen Verbündeten mehr. Für Europa wäre es einerlei, was hier passiert. Und daß etwas passieren wird, ist sicher. Wie stünde es denn um unsere Selbständigkeit, wenn in unserem Parlament eine Menge von russischen Staatsbürgern an unserer Gesetzgebung teilnehmen, die dazu die estnische Sprache nicht beherrschen?“ Eine doppelte estnisch-russische Staatsbürgerschaft werde dann unvermeidlich sein. Zum Transit durch Litauen nach Königsberg/Kaliningrad meint Kallas: Würde Litauen nicht der EU beitreten, würden russische Staatsbürger „durch Litauen spazieren, ohne die Existenz Litauens überhaupt zu bemerken“. Seit längerem falle auf, daß der Kreml behaupte, „Rußland habe gegenüber den baltischen Staaten legitime Interessen. Ich habe nie gelesen, daß etwa Finnland in Estland irgendwelche legitimen Interessen besitzt.“ Im Zusammenhang mit Estlands Nato-Beitritt habe Moskau mehrfach versucht, in einer für Estland sehr unangenehmen Weise die Frage der Schuld der Esten an den Nazi-Greueltaten gegen Juden zu stellen. Seltsamerweise habe Rußland die Absicht, Estland in Sachen Holocaust unter ständigem Beschuß zu halten. „Rußland lamentiert darüber, daß wir kränkliche KGB-Funktionäre verfolgen, die in Estland Greueltaten begangen, die gemordet, gefoltert und Zwangsdeportationen durchgeführt haben“, schreibt Kallas. Auf russischem Territorium aber hielten sich „Tausende von Mördern“ auf, die zu allererst das russische Volk vernichtet haben und die bis jetzt nicht zur Rechenschaft gezogen würden. Es gebe zwar einerseits Anhaltspunkte, daß sich Rußland in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft entwickle – aber es gebe auch Anzeichen, daß eine gegenteilige Entwicklung im Gange ist. „Man glaubte an Stalin, an Chruschtschow, an Gorbatschow und an Jelzin. Heute glaubt man an Putin.“ Dann meint Kallas: „Auch ich möchte an seine (Putins) gute Eigenschaften glauben – doch dafür müßte man vor den Menschenrechtsverletzungen in Rußland die Augen schließen.“ Kallas appelliert an seine Landsleute, nur die EU-Mitgliedschaft könne Estland vor Isolierung und möglicher erneuter Vereinnahmung durch Rußland retten. Aber so wie die jüngste Entwicklung in Brüssel sich ausnimmt, könnte gerade die EU Estland in eine prekäre Lage hinsichtlich seiner fragilen Ostgrenze manövrieren. Trotz allem werden wohl über 60 Prozent der estnischen Bevölkerung pro EU votieren.