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Der Schlaf der Vernunft gebiert Traumbilder

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Immer eigenbrötlerischer soll er wer den, der Dichter Botho Strauß. In dem Dorf in der Uckermark, wo Strauß sein Domizil hat, ist er – dies ist zumindest der Tenor einer Ende Juli veröffentlichten Reportage – nicht mehr sonderlich gelitten. Ein Dorfbewohner wird mit den Worten zitiert: „Ich glaube, am liebsten wäre es ihm, wenn wir alle weg wären und er ganz allein hier.“ Es scheint, als ob sich Botho Strauß im Elfenbeinturm seiner Kunst eingeschlossen hat. Dem entsprechen die Titel seiner letzten Werke, die immer merkwürdiger klingen: „Der Narr und seine Frau heute Abend in Pancomedia“ (ein Theaterstück mit 100 Rollen) oder zuletzt der Erzählband „Das Partikular“. Das neue Buch von Botho Strauß, das den rätselhaften Titel „Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich“ trägt, schließt an diese Entwicklung an. Den Hauptstrang bildet eine Liebesgeschichte, die in viele kleinen Geschichten zerlegt wird. Bei Strauß nicht mehr überraschend: der Einsatz von kryptischen Begrifflichkeiten wie zum Beispiel der „Thymotechnologie“. Kuriose, aberwitzige und surreale Erzählpassagen mischen sich mit Zeitgeistanalysen und Alpträumen. Wo findet sich hier, so möchte man – wie auch schon in dem Vorgängerbuch „Das Partikular“ – fragen, der Botho Strauß des „Bocksgesanges“ wieder? Liest man das Buch oberflächlich, dann könnte man tatsächlich zu dem Schluß kommen: Strauß hat der Politik Lebewohl gesagt. Ob und inwieweit Strauß jemals politisch war, soll an dieser Stelle dahingestellt bleiben. „Politisch“ wurde sein Essay „Anschwellender Bocksgesang“ durch eine breite mediale Diskussion, die oft mehr an Denunziation als an Klärung interessiert war. Ob Strauß diesen Essay aber wirklich „politisch“ gemeint hat, erscheint vor dem Hintergrund seines Werkes doch sehr fragwürdig. Zu erinnern ist nur an die „Bocksgesang“-Passage: „Es gibt gewissermaßen ein politisches Externum zur Bekämpfung und Leugnung der Allmachtsansprüche des Politischen, eine geistige Reserve, die (…) im Namen der Verbesserung der menschlichen Leidenskraft gegen die politischen Relativierungen von Existenz ficht.“ Daß es Strauß vor allem um dieses „Externum“ geht, hat er oft genug deutlich gemacht. Der Jubel der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, daß sich Strauß‘ Sinnen und Trachten jetzt um Frauen, Glück und Liebe drehe, wirkt deshalb unangemessen. Eine andere Sichtweise erscheint plausibler: Strauß macht in seinem neuesten Buch – wie auch schon im „Partikular“ – ernst mit seiner Definition von „Rechtssein“, die er vor gut zehn Jahren im „Bocksgesang“ abgegeben hat. Das „Rechte“, so Strauß damals, sei „zuerst das Rechte des gegenrevolutionären Typus von Novalis bis Rudolf Borchardt“. „Jede Nacht besuchen wir die Schule der Vergrößerungen“, so schreibt Strauß heute, „die das Gedächtnis unserer Liebe und Liebesmöglichkeit auffrischt. Und mehr noch! Was hätte unser Hirn der Vernunft zu bieten, ohne Erinnerungen an die fabelhaften Vergrößerungen der Nacht.“ Wir bräuchten diese Zufuhr von „reiner, bewußtseinsfreier Sinnlichkeit“, um unsere „Tagessinne“ wieder zu stärken und zu schärfen. Nur die „anarchische Reserve“ der Träume, die „Schule der Vergrößerungen“ in der Nacht frische das Gedächtnis der Liebe und Liebesmöglichkeiten auf. So lautet Strauß‘ Antwort auf die „Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will“. Wie immer erfordert auch dieser Essay von Strauß höchste Konzentration. Wieder hat er den kulturellen Tiefenspeicher angezapft, wieder brilliert er mit literarischen Anspielungen, vermengt Mythos und Alltagsbanalität, sucht den „Wiederanschluß an die lange Zeit, die unentwegte“, die ihrem Wesen nach „Tiefenerinnerung und insofern eine religiöse und protopolitische Initiation“ sei. Im Mittelpunkt der locker zusammenkomponierten Episoden stehen ein anonymer Ich-Erzähler und seine Frau Julia: „Zwei, die sich einst unter lauter Beeilten trafen, einander aufhielten und schließlich zwei Saumselige wurden, Schlendernde inzwischen, Schulterabstand knapp ein Meter, ein Zwischenraum, der sich für Unzertrennliche von selbst ergibt, wenn ihre Schritte angeglichen sind …“ Durch einen ausgestorbenen Stadtteil flaniert dieses Paar, und andere Sehnsüchtige mischen sich in den lautlosen Kreis, immer auf der Grenze zwischen Realität und Traum: Szenen, die an Bilder des belgischen Surrealisten Paul Delvaux erinnern. In „verschwätzten Zeiten“ bedürfe es „sprachlicher Schutzzonen“, bedürfe die „Sprache neuer Schutzzonen“, bedürfe es einer „toleranten Mißachtung der Mehrheit“, schrieb Strauß im „Bocksgesang“. Alles dies ist in seinem neuen Buch eingelöst. Es ist ein „hortus conclusus, der nur wenigen zugänglich ist und aus dem nichts herausdringt, was für die Masse von Wert wäre“. „Die Nacht mit Alice“ ist also bei Lichte betrachtet die konsequente Fortschreibung dessen, was Strauß im „Bocksgesang“ zu Papier gebracht hat. Strauß ist nicht „unpolitischer“ geworden, er ist sich vielmehr treu geblieben. Botho Strauß: Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich. Hanser Verlag, München 2003, gebunden, 152 Seiten, 17,90 Euro Michael Wiesberg veröffentlichte 2002 in der Edition Antaios das biographische Porträt „Botho Strauß. Dichter der Gegen-Aufklärung“.

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