Ein realistisches Bild des am 17. November 1624 in seinem Haus in Görlitz friedlich entschlafenen „Gottsuchers und deutschen Wundermanns“ Jakob Böhme wurde lange durch fromme Legenden verdeckt, unter denen die vom ort- und zeitlos grübelnden Mystiker sich am hartnäckigsten hielt. So zählt noch Karl Vorländers bis in die 1960er weitverbreitete „Geschichte der Philosophie“ diese „einfach-demütige, schwärmerische, gemütstiefe, in seine Innerlichkeit versunkene Natur“ zu jenen „Stillen im Lande“, die sich in einer Eremitenexistenz einkapselten.
Tatsächlich war Böhme zu keiner Zeit dieses „arme Schumachermeisterlein“, das sich in Spekulationen über Gott und die Welt verlor. Vielmehr führte er das bürgerliche Leben eines vierfachen Familienvaters und geschäftlich höchst erfolgreichen Görlitzer Handwerkermeisters.
Von seinen Zunftgenossen und den übrigen Mitbürgern trennte ihn allerdings ein wundersames Erleuchtungserlebnis, das ihm 1600 widerfuhr. Diese Vision, die ihn „ins innerste Gebiet der Gottheit“ habe schauen lassen, bringt Böhme zwar erst 1612 zu Papier, sie bestimmt aber fortan den Lebensweg des Philosophus Teutonicus. Mit seinen nur abschriftlich unter dem Titel „Aurora oder Morgenröte im Aufgang“ kursierenden theosophischen Reflexionen handelt er sich prompt die Feindschaft der lutherischen Orthodoxie in Gestalt des Görlitzer Oberpfarrers Gregor Richter ein.
Man sollte Böhme nicht den „Eingeweihten“ überlassen
Dieser fanatische Zionswächter läßt das Manuskript konfiszieren, treibt den Bürgermeister der Neiße-Stadt dazu, den als gefährlichen ketzerischen Schwärmer gebrandmarkten Verfasser für einige Tage ins Gefängnis zu stecken und nötigt Böhme das Versprechen ab, keine Zeile mehr zu religiösen und theologischen Themen zu schreiben.
Woran der sich zunächst hält, wohl auch weil ihm die Zeit fehlt. Denn als nunmehr „umstrittene“ Figur, dessen gesellschaftliche Stellung durch Richter erschüttert wurde, verkauft er 1613 seine Schuhbank, steigt in den Garnhandel ein und ist, weiterhin in Görlitz wohnend, zumeist in Sachsen und Schlesien unterwegs. 1618, kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges, sichert ihm die Unterstützung von Konventikeln adeliger Gesinnungsfreunde aus der weiteren Nachbarschaft wirtschaftliche Unabhängigkeit, die Böhmes rauschartige Produktion auslöst: In den nur fünf Jahren bis zu seinem Tod entstehen 90 Prozent seines 4.000 Seiten im Oktavformat umfassenden Gesamtwerks.
Ein Zugang zu diesem Versuch einer Synthese von christlich grundierter Natur- und Gotteserkenntnis unter Beimischung von Neuplatonismus, Astrologie, Paracelsismus und allerlei „Geheimlehren“ wie sie etwa Rosenkreuzer zur Lösung der Welträtsel offerierten, scheint sich heute nicht einmal für versierte Esoteriker zu öffnen. Und doch warnt ein Blick in die Rezeptionsgeschichte des ohne terminologische und methodische Disziplin bilderreich über die Qualitäten Gottes und seiner Schöpfung enthemmt spekulierenden Autodidakten und „protestantischen Sektierers“ Böhme davor, sein enigmatisches Werk vermeintlich „Eingeweihten“ zu überlassen.
Es gibt keine Schöpfung aus dem Nichts
Will man es stattdessen von den positiven wie negativen Wirkungen her verstehen, ist nicht zu ignorieren, daß Böhmes mittelbarer, unterirdischer Einfluß vielleicht der größte war, den ein vormoderner Denker im geistigen Leben Deutschlands nach 1750 ausübte. Das gilt für die Romantik, die Philosophie des deutschen Idealismus, für Friedrich Wilhelm Schelling vor allem, für Gegenaufklärer wie Oetinger, Lavater und Bader.
Hegel, Marx, Engels und Feuerbach wußten den Dialektiker Böhme zu schätzen, und noch Lenin kam nicht umhin festzustellen, daß der idealistische Pantheismus des deutschen Mystikers doch erstaunliche Anknüpfungspunkte für eine materialistische Deutung seiner Naturphilosophie biete.
An diesem Punkt hakten bereits seine unerbittlichsten zeitgenössischen Kritiker ein, die orthodoxen Lutheraner. In Böhmes Weltbild gibt es keine Schöpfung aus dem Nichts. Die Natur ist ewig, und sie ist vor und in Gott, der für jeden Gläubigen spirituell unmittelbar erfahrbar ist.
Die Freien, Gleichen und Toleranten garantieren den Frieden
Da Gott ohnehin nicht durch Vernunft erkennbar sei, werde der gelehrte Priester als Mittler zwischen Laien und Gott überflüssig. Die Institution Kirche ist für Böhme daher eine dem Untergang geweihte „Mauerkirche“, die von der „Geistkirche“ abgelöst wird. Das soll das Ziel einer „vollendeten Reformation“ sein, die den inneren Menschen existentieller ergreift und wandelt als Martin Luthers Unternehmen.
Oberstes Ziel ist die Herstellung der Harmonie des Menschen mit Gott. Das ist Voraussetzung für die richtige Gestaltung und Verbesserung des äußeren Lebens. Alle religiöse Spekulation muß darum münden in praktisches Tun.
Demnach soll in die künftige, wahrhaft christliche „Geistkirche“ religiöse Duldsamkeit und Geistesfreiheit einziehen. Ferner soll das gleichmacherische Prinzip des Priestertums aller Gläubigen herrschen, das keine Rangstufen in der Gemeinde zuläßt. Die Ausübung tätiger Nächstenliebe sei dadurch zu fördern, daß private Reichtümer sozialen Zwecken dienen. Nur solche Gemeinden der Freien, Gleichen und Toleranten garantierten den inneren Frieden im Staat und den zwischenstaatlichen Frieden. Insbesondere jedem „verfluchten Religionskrieg“ will Böhme somit vorbauen.
„Sie ist zu Babel, nichts als Babel geworden“
Es ist kein Zufall, daß Böhme in Görlitz, in der Oberlausitz und in Niederschlesien Mäzene und eine zahlreiche Anhängerschaft ansprach. Denn diese Landschaften waren seit Ausgang des Mittelalters der „Mutterboden verwirrender chiliastischer Träumereien, von Hoffnungen auf das Ende der Zeit und den Untergang der Welt“, auf eine „Große Wende“, so der Böhme-Forscher Will-Erich Peuckert im Gedenkjahr 1924.
Auch der sich als Prophet exponierende Görlitzer Theosoph war 1621, vor dem Hintergrund des ausgebrochenen Dreißigjährigen Krieges, davon überzeugt, daß es soweit sei und Babel anfange zu brennen. Durch den Krieg schien sich nun zu beschleunigen, was ihm die Entwicklung der Mauerkirche von jeher angezeigt hatte: deren sittlicher Verfall: „Sie ist zu Babel, nichts als Babel geworden“.
Böhmes Konzept kam nicht mehr zum Zuge
Damit gebe sie zwangsläufig den Weg zur Geistkirche frei, auf die der Kern von Böhmes Anhängerschaft, die begüterten Adligen in der Oberlausitz, in Brandenburg, Sachsen und Niederschlesien hoffte. Für sie hatten Religionsfragen ganz reale politisch-ökonomische Bedeutungen. Konnten sie doch Erbanwartschaften auf verwaiste Güter in Gebieten geltend machen, in denen sich die Konfessionsbelange mit dem jeweiligen Landesherren oder der Besatzungsmacht zu ihrem Nachteil zu wandeln drohten.
In Schlesien selbst sah man infolge der Ereignisse die Gegenreformation vor der Schwelle. Zugleich boten sich ihnen vertriebene böhmische Brüder und eine Reihe anderer Opfer von Religionsverfolgungen als Arbeitskräfte an, die nur mit gesteigerter religiöser Toleranz integrierbar waren (Siegfried Wollgast, 1993). Böhmes ideologisches Konzept der Geistkirche schien sich dafür zu empfehlen, kam aber infolge des Krieges nicht mehr zum Zuge.