Eine der rätselhaftesten Figuren der Literaturgeschichte ist Bartleby der Schreiber, welcher in der gleichnamigen Erzählung des amerikanischen Schriftstellers Herman Melville auftritt. Der Schreibgehilfe, tätig in einem lichtlosen Anwaltsbüro an der Wall Street, stellt eines Tages zum Entsetzen seiner Vorgesetzten jede Form der Arbeit ein. Zwar verbleibt er weiterhin an seinem Arbeitsplatz, sitzt dort jedoch nur freudlos auf der Stelle. Auf alle Bitten und Aufforderungen, doch wieder ein Mindestmaß an Kooperationsbereitschaft zu zeigen, antwortet er stets mit den kryptischen Worten: „Ich möchte lieber nicht.“
Über ein Jahrhundert galt Bartleby als groteskes Kunstprodukt der Melvilleschen Phantasie. Doch in den letzten Jahren scheint der halbanarchische Ausstieg aus der Partizipation am großen Ganzen immer mehr Nachahmer zu finden. Insbesondere Deutschland ist durch die schleichende Erosion seiner wohlstandsgebundenen Solidargemeinschaft zu einer Geburtsstätte von Millionen Bartlebys geworden. Seine Enthaltungsgeste wird zur negativistischen Verhaltenslehre für ein überlastetes Bürgertum, das angesichts seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit resigniert.
Die Verweigerung als Form des laut- und hilflosen Aufbegehrens zeigt sich in unterschiedlichsten Ausprägungen. Da wären Hunderttausende von nicht abgegebenen Grundsteuererklärungen, deren umständliches Anfertigungsprozedere nicht mehr als Bürgerpflicht, sondern als Gehorsamsritual einer kafkaesken Hyperbürokratie wahrgenommen wird. In Verbindung mit einer improvisierten Klimaschutzgesetzgebung, die keine andere Botschaft außer jener der Nebenkostenexplosion vermittelt und so generationenübergreifende Lebenswerke an Fleiß und Beständigkeit zunichte zu machen droht, prägt sich tiefes Mißtrauen als instinktive Reaktion auf Verlautbarungen aus Berlin aus.
Niemand will für dieses Land zur Waffe greifen
„Ich möchte lieber nicht“ lautet auch die Antwort in einer jüngsten Umfrage über den individuellen Beitrag zur Verteidigungsbereitschaft für die Souveränität der Bundesrepublik. Gerade einmal jeder zehnte wäre im Ernstfall bereit, zur Waffe zu greifen. Der nicht mehr vorhandene Überlebenswille des Gemeinwesens läßt sich nicht mit dem Verweis auf postmodernes Beliebigkeitsdenken erklären, denn in einer vergleichbaren finnischen Studie bekräftigen 83 Prozent der Befragten den Willen zum Kampf für ihre Nation.
Die staatsbürgerliche Ermüdung, deren Symptome politische Orientierungslosigkeit und gesellschaftliche Desintegration darstellen, ist längst ein lagerübergreifendes Phänomen. Historische Höchststände bei den Krankmeldungen lassen auf eine immer geringer ausgeprägte Identifikation der Arbeitnehmer mit ihrer Beschäftigungsstelle schließen. Daß insbesondere Beamte hier hervorstechen, zeigt die fortschreitende Untergrabung der Autorität ihres Dienstherrn.
Die Forderung, auch die letzten Überreste von Wettkampfdenken wie in Form der Bundesjugendspiele zu verbannen, ist nur konsequent. Wenn Leistung nicht gewürdigt, sondern durch zusätzliche Abgabenlast stigmatisiert wird, stellt kaum jemand mehr Produktivität vor persönliche Bequemlichkeit. Demographische Krise, Innovationsschwäche und Arbeitsenthaltung in Form von Teilzeit- und Telearbeit weisen den Weg in den sozioökonomischen Abstieg des Landes.
„Wir sind keine Römer, wir rauchen Tabak“
Im Gegenzug läßt sich als Resultat der Staatsverdrossenheit eine neue deutsche Biedermeiermentalität feststellen. Als Ausweg aus Entfremdung und einzige Form der Selbstwirksamkeit wird das Werken im unmittelbaren Umfeld von Familie, Gemüsegarten und virtuellen Scheinwelten entdeckt. „Die Römer waren Tyrannenfresser /Wir sind keine Römer, wir rauchen Tabak“, wußte schon die Spottdrossel Heinrich Heine die Passivität seiner Landsleute um die Mitte des 19. Jahrhunderts treffend zu charakterisieren.
Der sozialistische Politologe Herbert Marcuse bewertete indes die Große Verweigerung als Möglichkeit zur gesamtgesellschaftlichen Umwälzung. Die kompromißlose Abkehr von überkommenen Zwängen würde den Weg in neue Mitgestaltungsverhältnisse ebnen. Auch die Alternative für Deutschland vermutet im Bürgerunmut ein gigantisches Grollreservoir, aus dem es politisches Kapital zu schlagen gilt.
Sie bedient sich eines thymotischen Ertüchtigungsprogramms, welches die diffuse Müdigkeit der Marginalisierten in Zorn umwandeln und die Stimme der Diskursverweigerten zurück in die öffentliche Debatte tragen soll. Das Wahlvolk findet sich so im Spannungsfeld zwischen Betäubung in Form von Durchhalteparolen des etablierten Politik- und Medienbetriebs und den Empörungsstimulanzien der Opposition. Doch ein konträrer Medikamentencocktail kann zu gänzlich unerwarteten und bisweilen toxischen Nebenwirkungen führen.
Wehrhafte Nationalstaatlichkeit und Traditionsbekenntnis
Insbesondere die AfD übersieht, daß die Gunst der Zermürbten flüchtig ist. Die jüngste Hochphase in den Sonntagsfragen kann in der Arithmetik des Protests schnell in ihr Gegenteil umschlagen. Nur wenn die Partei aufhört, das ressentimentgeladene Erregungsspiel ihrer zahlreichen Gegner mitzuspielen, wird sie als flächendeckende Oppositionsbewegung akzeptiert werden. Dafür muß sich ihre öffentliche Wahrnehmung vom ingrimmigen Bedenkenträger zum ermutigenden Impulsgeber einer bitter nötigen Normalisierungstendenz wandeln. Eine befremdliche Mobilisierungsrhetorik mit an die EU adressierten Tötungsphantasien, wie sie stellenweise auf dem vergangenen Parteitag in Magdeburg geäußert wurde, wirkt dabei gegenteilig.
In einer koordinierten Zusammenarbeit mit den insbesondere osteuropäischen Staaten liegt ein Schlüssel zu künftigen Leitideen für eine tragfähige Verbindung von wehrhafter Nationalstaatlichkeit und Traditionsbekenntnis. Für die Einnahme einer Position der europäischen Autonomie muß jedoch eine klare Abgrenzung zum außereuropäischen Neoimperialismus Rußlands erfolgen.
Wer sein Schicksal freimütig aus der Hand gibt…
Die Herausforderung der AfD besteht darin, eine realpolitische Konkretisierung ihrer Programmatik herbeizuführen, ohne dabei ihr Unterstützerfundament durch zu große Erschütterungen zu spalten. Sie muß sich entscheiden, ob sie eine Partei der irrelevanten Wutartikulation bleiben oder zum Regisseur eines grundlegenden, aber integrativen Wandels reifen möchte. Ihre Aufgabe ist es, aus dem um sich greifenden Phänomen der Verweigerung eine legitime Willensbekundung zur Selbstbehauptung zu formulieren.
Dazu benötigt es eine Zielsetzung und Sprache, die von Begeisterung für das immer noch vorhandene Potential dieses Landes zeugt. Und Bartleby? Der wurde eines Tages von der Polizei abgeführt und in das berüchtigte New Yorker Gefängnis „The Tombs“ geworfen. Der deutsche Bürger sollte sich dringlich wieder selbst mehr in die Pflicht nehmen. Denn wer sein Schicksal freimütig aus der Hand gibt, über den wird am Ende fremdbestimmt werden.