„Zwei Dinge sind unendlich: das Universum und die menschliche Dummheit. Aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher“, sagte einst Albert Einstein. Der Schweizer muß recht gehabt haben. Anders sind die NPC-Streams, die aktuell die Videoplattform TikTok fluten, nicht zu erklären. Der neue Trend offenbart, daß das Unterhaltungsniveau dort mittlerweile einen neuen Tiefstand erreicht hat. Junge Menschen bezahlen massenhaft Geld an schamlose Creator, ohne dafür auch nur den Ansatz eines Gegenwertes zu erhalten. Doch wie konnte es so weit kommen?
NPC: Das steht für „Non-Player Character“ und wird häufig in Videospielen und Rollenspielen verwendet. Er wird vom Spiel selbst gesteuert und nicht von einem echten Spieler kontrolliert. Meist bewegen sie sich roboterartig. Die NPCs nachzuahmen, eröffnet aktuell einigen TikTok-Creatorn eine lukrative Einnahmequelle. In Streams reagieren sie auf die Spenden mit seltsamen Geräuschen und kurzen Sprüchen. Manchmal in Kostüm und vor eingerichteter Kulisse, manchmal auch einfach nur in der Küche.
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Das Gesagte unterscheidet sich je nach virtuellem Geschenk, das sie vom Publikum in Form von gekauften Items wie einer Kappe oder eine Rose erhalten. Alle variieren dabei im Wert und reichen von 1,5 Cent bis zu 1,50 Euro für die angesprochene Cap. Erhält der Creator beispielsweise ein Eis, sagt er „Mhh Yummy, Ice Cream“. Flattert eine Rose auf das Konto, sagt er „That smells good“. Unglaublich, aber wahr: Einige Nutzer verdienen mit dieser Taktik tausende von Euros und erhalten Spenden im Sekundentakt.
7.000 Dollar am Tag für Quatsch
Eine Nutzerin, die den Trend besonders gepusht hat, ist „Pinkydoll“. Sie ist dadurch mittlerweile auch außerhalb der Plattform bekannt. Laut eigener Aussage verdient sie an einem vollen Tag Streaming etwa 7.000 Dollar. Eigentlich heißt sie Fedha Sinon, ist 27 Jahre alt und kommt aus Kanada. Sie ist nicht die Einzige, die die Goldgrube für sich entdeckt hat: Die Streams sind ein weltweites Phänomen. Ohne die Bereitschaft der Nutzer, derlei Inhalte nicht nur auf der TikTok-Startseite zu ertragen, sondern auch noch Geld dafür zu bezahlen, wäre das jedoch nicht möglich.
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Dabei ist es noch nicht lange her, daß auch hierzulande tausende Nutzer dazu beigetragen haben, dem Betrüger Thomas Hornauer alias „König Thomas“ wieder ordentlich Geld in die Kasse zu spülen. Der selbsternannte König machte seine Live-Streams zu „spirituellen“ Zeremonien, in denen seine Fans für ihn tanzen konnten: selbstverständlich nur, wenn sie seiner Majestät vorher auch genug gespendet hatten.
Von harmlosen Videos zu hirnrissigen Szenen
Warum junge Menschen für die nicht sonderlich geistreichen Umtriebe eines Creators freiwillig teils viel Geld ausgeben, scheint unerklärlich. Vielleicht ist es spätrömische Dekadenz, vielleicht auch einfach nur ein Indikator für Pisa-Studien, in denen Deutschland zukünftig noch schlechter abschneiden wird. Dabei hat alles ganz anders angefangen: Im November 2017 kaufte das chinesische Technologieunternehmen ByteDance Musically für rund eine Milliarde US-Dollar und fusionierte die Plattform mit Douyin, der hauseigenen App für Kurzvideos. TikTok behielt die Funktionen der Anwendungen und eroberte die Download-Charts im Sturm. Heraus kamen dabei anfangs harmlose Videos zu Lip-Syncing, Tanz-Challenges, Comedy oder DIY-Anleitungen.
@woodyandkleiny The Hungry Hoover! 😂
Mittlerweile hat sich TikTok verändert. Streams, in denen die Creator ihre Zuschauer auf einfache Weise um hohe Spendensummen bringen, sind sogar zu einem eigenen Genre herangewachsen: Bettelstreams. Doch das ist nicht der einzige Content auf der Plattform, der mit den Anfängen wenig zu tun hat. Kriminelle Kartelle posen in Kurzclips mit ihrem Reichtum, Nacktheit gehört zur Dauerbeschallung und Jugendliche riskieren in Form von gefährlichen Challenges ihr Leben.
Für die Klicks vom fahrenden LKW springen
Bei der Hot Water Challenge etwa werden Menschen aufgefordert, kochendes heißes Wasser über sich selbst oder andere zu gießen oder es zu trinken. Die Folgen dieser Challenge waren mehrere Krankenhausaufenthalte, ein achtjähriges Mädchen aus Florida kam ums Leben, nachdem sie heißes Wasser durch einen Strohhalm getrunken hatte.
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Eine weitere Form der Idiotie ist die Blackout-Challenge. Dabei strangulieren und würgen sich die TikTok-Nutzer selbst bis zur Bewusstlosigkeit und filmen sich dabei. Das Resultat laden sie danach hoch und erhoffen sich Ruhm und Anerkennung. Die Folgen sind gravierend. Allein durch die Blackout-Challenge starben laut dem W&V-Magazin nur in den USA bereits sieben Menschen. Weltweit sind die Opfer durch gefährliche TikTok-Trends jedoch noch deutlich höher. Der Klickgeilheit sind keinerlei Grenzen gesetzt: Bei der Angel of Death-Challenge springen Jugendliche vor Lastwagen. So absurd es sich auch anhört, starb dabei im vergangenen Jahr ein 18jähriger Indonesier. Seine Freunde filmten seinen Tod und luden das Video im Anschluss sogar noch auf der Plattform hoch.
Tragischer Algorithmus
Das Tragische: Der Algorithmus der Plattform fördert besonders krasse Inhalte, weil sie häufig und lange angeschaut werden. Das liegt leider in der Natur des Menschen, wird allerdings von TikTok auch nicht bekämpft. Bis problematische Inhalte entfernt werden, dauert es häufig sehr lang. In der Zwischenzeit haben sie sich bereits verbreitet und laden Kinder zum Nachahmen ein. Daß das chinesische Unternehmen ByteDance in naher Zukunft mehr Kapazitäten für die Bekämpfung von kriminellen Darstellungen und Gewalt aufwendet, ist nicht zu erwarten.
Die NPC-Streams werden wieder verschwinden genau so wie viele andere Trends auch. Doch es werden auch neue entstehen, die vermutlich nicht weniger verrückt sein werden. Diesen Zyklus zu stoppen, ist im Zeitalter des Internets unmöglich. Selbst wenn TikTok verschwände, würde eine andere Plattform in die Fußstapfen treten, denn die Nachfrage ist vorhanden – andernfalls würden die Nutzer nicht spenden. Man muss die Inhalte nicht mögen, und es steht jedem Bürger frei, sich einen Account anzulegen. Die pure Existenz etlicher Trends und Videos ist allerdings schon erschreckend genug.