Auch in den deutschen Medien war die Begeisterung in der vergangenen Woche groß. Mit Ketanji Brown Jackson ist zum ersten Mal in der Geschichte eine schwarze Frau in den Obersten Gerichtshof der USA gewählt worden. „Eine historische Bestätigung“, erfreute sich die FAZ. Endlich „mehr Diversität im höchsten Richteramt“, begeisterte sich auch die Frankfurter Rundschau.
Schon während der Präsidentschaftskampagne im Jahr 2020 hatte Joe Biden versprochen, er werde für den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten zum ersten Mal in der Geschichte eine schwarze Frau nominieren. Berichten zufolge machte er die Zusage zuerst gegenüber James Clyburn (Demokratische Partei), dem einflußreichen afroamerikanischen Kongressabgeordneten aus South Carolina. Als Gegenleistung sollte Clyburn die schwarzen Wählerstimmen in seinem Bundesstaat sichern. Damit gewann Biden die Vorwahlen in South Carolina, die für ihn auf dem Weg zur Nominierung als Präsidentschaftskandidat entscheidend waren. Biden stand also in Clyburns Schuld.
Mit seiner Entscheidung war sowohl die Hautfarbe als auch das Geschlecht für die vakante Position beim Obersten Gerichtshof frühzeitig festgelegt. Das Problem: Weniger als drei Prozent der amerikanischen Juristen sind schwarze Frauen. 97 Prozent von ihnen wurden somit von der Vorauswahl ausgeschlossen, ohne daß sie aus persönlicher Sicht etwas daran ändern konnten oder ihre Qualifikation entscheidend gewesen wäre. Sie hatten ganz einfach die falschen körperlichen Merkmale.
Was ist eine Frau?
Natürlich gibt es auch in den USA bundesgesetzliche und verfassungsrechtliche Bestimmungen, laut denen rassistische und sexuelle Diskriminierungen bei Berufseinstellungen verboten sind. Aber in manchen Fällen können derartige Grundsätze eben unter den Tisch fallen. Die Chance, als weiße Person eine solche Diskriminierung vor einem US-Bundesgericht erfolgreich einzuklagen, dürften vermutlich gegen Null tendieren.
Ketanji Brown Jackson mußte vor ihrer Wahl in den Supreme Court eine unangenehme Anhörung über sich ergehen lassen. Einige republikanische Abgeordnete löcherten die Richterin mit gezielten Fragen zu ihrer niedrigen Verurteilungsbilanz in Kinderpornografie-Fällen oder ihrer Verbindung zu Denkern der „Critical Race Theory“ („Kritische Rassentheorie“). In beiden Fällen hielt sie den Angriffen stand.
Ins Schlingern geriet sie nur an einer Stelle: Jackson behauptete auf eine Nachfrage der Abgeordneten Marsha Blackburn, daß sie keine Definition des Wortes „Frau“ liefern könne, weil sie keine „Biologin“ sei. Da sie auch keine Ethnologin ist, könnte sie nach dieser Logik also auch keine Definition des Wortes „schwarz“ geben. Zwar verkörpert Jackson mit derlei Äußerungen den linksliberalen Zeitgeist auf perfekte Art und Weise. An ihren beruflichen Qualifikationen konnte bei der Harvard-Absolventin jedoch kaum gerüttelt werden, auch wenn es einige republikanische Abgeordnete in der Anhörung versuchten.
Blackburn: Can you define “woman?”
Ketanji Brown Jackson: I am not a biologist.
What does biology have to do with being a woman? Isn’t that what the Left has been trying to convince us? That gender is a social construct? pic.twitter.com/1oXF6OIPsn
— Terry Schilling 🇺🇸 (@Schilling1776) March 23, 2022
Sinnbildlich für „woke“ Entwicklung
Somit ist der Gerichtshof künftig mit vier Richterinnen und fünf Richtern besetzt. Sechs von ihnen wurden von den Republikanern nominiert, drei von den Demokraten. Doch der „woke“ Einschlag dürfte künftig spürbarer werden. Der Fall Ketanji Brown Jackson, und mit ihr die identitätspolitische Entscheidung, auf deren Grundlage sie die Position am Obersten Gerichtshof erlangte, steht sinnbildlich für eine Entwicklung, die viel tiefer geht und gerade erst begonnen hat. Das ganze Rechtssystem in den USA steht vor erheblichen Umbrüchen. Wie so häufig beginnen diese Umbrüche an der Universität, wo die zukünftige Generation von Juristen ausgebildet wird.
Mittlerweile greifen Politisierung und „woker“ Tribalismus nicht nur an den sozialwissenschaftlichen, sondern auch an den juristischen Fakultäten um sich. Die Kategorien Rasse und Geschlecht verdrängen den Glauben an den neutralen Rechtsstaat. Das war bereits einer der zentralen Kritikpunkte, aus dem sich in den 1980er Jahren die „Critical Race Theory“ („Kritische Rassentheorie“) entwickelt hatte. Die Bewegung argumentierte schon damals: Da die weiße Mehrheitsgesellschaft im Westen systematisch rassistisch ist und sich dieser Rassismus in allen Institutionen des Staates eingebrannt hätte, sei der Gedanke eines vermeintlich neutralen Rechtsstaates irreführend und verschleiernd.
Die Denker der Critical Race Theory fristeten lange Zeit eher ein Außenseiterdasein, doch inzwischen sind ihre Begründer wie Derrick Bell oder Kimberlé Crenshaw gefragte Persönlichkeiten. Der US-Journalist Aaron Sibarium hat diese Entwicklung in den vergangenen Jahren kritisch begleitet und sieht vor allem das Jahr 2020 als Wendepunkt. „Plötzlich war die kritische Rassentheorie an Amerikas juristischen Fakultäten mehr als Mainstream. Sie wurde zur Pflicht“, beschrieb er die Lage kürzlich in einem Essay auf dem Substack-Blog von Bari Weiss.
Diversity-Schulungen werden zur Norm
Mittlerweile werde an vielen Universitäten wie etwa der Georgetown Law School von allen Studenten verlangt, einen Kurs „über die Bedeutung der Infragestellung der Neutralität des Gesetzes“ und die Bewertung seiner „unterschiedlichen Auswirkungen auf untergeordnete Gruppen“ zu belegen. „Die UC Irvine School of Law, die University of Southern California Gould School of Law, die Cardozo School of Law der Yeshiva University und die Boston College Law School haben ähnliche Anforderungen eingeführt. Andere juristische Fakultäten ziehen sie in Betracht“, schreibt Sibarium.
Auch Diversity-Schulungen sind mittlerweile zur Norm geworden. Seit kurzem verlangt die American Bar Association, eine Vereinigung von Rechtsanwälten, Richtern und Studenten, von allen anerkannten juristischen Fakultäten, daß sie „Jurastudenten über Vorurteile, interkulturelle Kompetenz und Rassismus aufklären“ – natürlich gemäß linken Leitlinien. Dies geschieht zusätzlich zu einem obligatorischen Ethikkurs, in dem die Studenten lernen müssen, daß sie als Anwälte die Pflicht haben, „Rassismus zu beseitigen“.
Auch Gerichtsurteile, die sich nicht mit „woken“ Grundsätzen vereinbaren lassen, dienen als Beleg des allgegenwärtigen rassistischen Systems. „An der Rechtsfakultät der Santa Clara University School of Law teilte die Verwaltung den Studenten per E-Mail mit, daß der Freispruch von Kyle Rittenhouse ein weiterer Beweis für den systemischen Rassismus innerhalb unseres Strafrechtssystems sei“, berichtet Sibarium.
„Ich zensiere mich massiv selbst“
Der Autor führte für seinen Essay zahlreiche Interviews mit Juraprofessoren, die den Geist offenbaren, der momentan an den Universitäten herrscht. Wer bestimmte „woke“ Glaubenssätze in Frage stellt und sich weiterhin für den neutralen Rechtsstaat einsetzt, steht auf der Abschußliste und wird von Studenten unter Druck gesetzt. „Ich zensiere mich massiv selbst. Ich gehe davon aus, daß alles, was ich sage, jede Mimik, aufgezeichnet und möglicherweise in der ganzen Welt verbreitet wird. Ich fühle mich wie in einem Panoptikum“, gab etwa Nadine Strossen zu Protokoll, die erste Frau an der Spitze der American Civil Liberties Union und Professorin an der New York Law School.
Mehrere Rechtsprofessoren beklagten zudem die maßlose Ausbreitung von Büros für Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion, deren Angestellte dazu neigen würden, die Beschwerden von Studenten nur zu bekräftigen und eine weitgreifende Zensur zu fördern. Kate Stith, Professorin an der Yale Law School, meint: „Die juristischen Fakultäten befinden sich in einer Krise. Die Wahrheit spielt keine große Rolle. Es geht darum, die eigene Tugend zu signalisieren.“
Moralisch aufgeladen
Dieser Nachwuchs strömt nun in die Kanzleien und trifft dort auf ein Denken, das bereits jetzt moralisch aufgeladen ist. Denn mit dem Siegeszug des „woken“ Kapitalismus hat sich auch die Geschäftswelt ideologisiert. Immer mehr Anwaltskanzleien fürchten, ihre Firmenkunden zu verlieren, wenn man die „falschen“ Leute vertritt. „Es kommt den Leuten gar nicht mehr in den Sinn, kontroverse Fälle anzunehmen“, zitiert Sibarium einen renommierten Anwalt aus der Hauptstadt Washington D.C.
Ein weiterer Jurist sei gezwungen gewesen, einen Mandanten mit rechtsextremen Ansichten abzuweisen, weil die Kanzlei der Meinung war, daß jede Verbindung mit dem Mandanten – selbst wenn die vorgebrachten Ansprüche berechtigt wären – schlecht für das Geschäft wäre. Das amerikanische Rechtssystem laufe Gefahr ein „totalitärer Alptraum“ zu werden, warnt deshalb Andrew Koppelman, Professor an der Northwestern Law School.
Wenn die Imperative der Rasse, des Geschlechts und der Identität in naher Zukunft wichtiger werden als die Unschuldsvermutung hätte das tatsächlich gravierende Auswirkungen. „Wenigstens haben wir noch das Gesetz auf unserer Seite“, lautete lange Zeit eine Hoffnung der US-Konservativen. Die „woke“ Transformationen im Rechtssystem sorgt gerade dafür, daß auch dieser Glaube schwinden könnte.