Über ein Jahr manövrierte Deutschland ohne eine relevante Wahl durch die Corona-Krise. In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gab es nun den ersten Stimmungstest vor der Bundestagswahl im September. Das Ergebnis: mehrere Warnschüsse.
Als Schock entpuppt sich das Wahlergebnis vor allem für die CDU, die es sich monatelang im Zuge der Corona-Krise in einem außergewöhnlichen demoskopischen Höhenflug hatte bequem machen können. Die „Merkel muß weg“-Stimmung war mit der Ausrufung der Pandemie verschwunden. Zwischenzeitlich wuchsen die Sympathiewerte der Dauerkanzlerin derart, daß sogar darüber spekuliert wurde, ob Merkel noch eine weitere Amtszeit folgen lassen könnte.
Doch schon seit Wochen folgt für die von der Union geführte Bundesregierung eine Panne nach der anderen: Das schlimmste Desaster war die Impfstoffbestellung, die auf Merkels Druck an Brüssel delegiert werden mußte. Daß die USA, Israel und ausgerechnet Brexit-Großbritannien die EU mit Rekordimpfungen deklassieren, wird mit der von Merkel inthronisierten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) verbunden.
Frühe Briefwähler ersparen CDU größeres Debakel
Nicht weniger glücklos agierte der lange als Shooting-Star der CDU und heimlicher Reserve-Kanzlerkandidat gehandelte Gesundheitsminister Jens Spahn in den vergangenen Wochen: Nachdem es ihm schon über Monate nicht gelungen war, den verstärkten Schutz von Menschen in Altenheimen zu koordinieren, verpatzte Spahn den Start der von ihm für „Anfang März“ bundesweit angekündigten Schnelltests. Sein Name wird auch mit dem Schneckentempo der Impfstrategie verbunden bleiben.
Drei Wochen vor der Wahl – die ersten Briefwähler hatten bereits begonnen abzustimmen – detonierte dann noch die Masken- und Korruptionsaffäre, bei der inzwischen drei Bundestagsabgeordnete der Union aufgeflogen sind. Tödlicher Vorwurf: Bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie sollen sie sich persönlich bereichtert haben.
Der von Demoskopen in den Wochen zuvor ermittelte beschleunigte Abschwung hätte die CDU noch massiver getroffen, wenn er nicht durch die enorme Zahl der früh abgegebenen Briefwahlstimmen abgemildert worden wäre. Auch so erreichte die Partei in ihren einstigen Stammländern die jeweils historisch schlechtesten Ergebnisse. In Baden-Württemberg verpaßten aufgrund des landesspezifischen Wahlsystems in besonders demütigender Weise die Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann und Landeschef Thomas Strobl den Landtagseinzug. Sinnbild eines Debakels.
AfD kann nicht von CDU-Schwäche profitieren
Damit steht die Union wieder am Ausgangspunkt jener existenzbedrohenden Schwächephase, die lediglich durch die Pandemie überdeckt wurde. Die Wahl von Armin Laschet zum neuen CDU-Vorsitzenden brachte bislang weder einen Befreiungsschlag noch neue Orientierung. Drei Viertel der Deutschen halten ihn nach einer aktuellen Civey-Umfrage als Kanzler für ungeeignet. Ob Laschet oder als Alternative Söder: Beide müssen ohne Amtsbonus des Kanzlers erst aus dem Schatten Merkels treten. Angesichts dessen ist die wahrscheinliche Perspektive der Sieg irgendeines linken Bündnisses – ob Ampel oder Rot-Rot-Grün –, und die CDU verliert ihr Abo auf das Kanzleramt.
Der Historiker und CDU-Vordenker Andreas Rödder sieht die Union in einer tiefgreifenden Krise und den durch Corona verursachten innenpolitischen „Burgfrieden“ am Ende. Die ungeklärten Fragen einer unter Merkel programmatisch entkernten und völlig verunsicherten Partei träfen die CDU nun wieder mit voller Wucht. Bislang könne die Parteispitze unter Laschet jedenfalls nicht beantworten, „warum Leute eigentlich die CDU und nicht die Grünen wählen sollten“, so Rödder. Genau das ist der Punkt.
Obwohl die CDU durch ihren unter Merkel beschleunigten Linkstrend die konservative Flanke sperrangelweit geöffnet hat, gelingt es der AfD derzeit kaum, diese Lücke zu füllen. Der Effekt der Briefwahl, der den Abschwung der CDU abschwächte, scheint die in den jüngsten Umfragen vor der Wahl registrierte Erholung der AfD dagegen gebremst zu haben. So verbuchte die AfD in beiden Ländern sowohl in absoluten Stimmen als auch relativ die größten Verluste aller Parteien. Ein massiver Dämpfer für die junge Kraft.
Freie Wähler entziehen der AfD Wählerstimmen
Diese Einbußen haben Gründe: Das Thema Migration, das die Wahlen 2016 kurz nach Merkels Grenzöffnung beherrschte, rutschte im Wählerinteresse nach hinten. Das naheliegende Hauptthema Corona polarisiert die Bevölkerung nicht annähernd so stark wie die unkontrollierte Zuwanderung. Viele Umfragen zeigen zudem, daß die AfD-Anhänger in der Haltung zur Corona-Politik selbst gespalten sind. Wähler, die zu einer maßvollen Öffnungsstrategie neigen und von teils schrillen Tönen aus der AfD verschreckt sind, machen ihr Kreuz eher bei der FDP oder den Freien Wählern. Radikale Corona-Kritiker, denen die AfD zu besonnen war, schwenkten zu Querdenker-Listen, die in Baden-Württemberg fast zwei Prozent der Stimmen sammelten.
Besonders die Freien Wähler, die prozentual relativ die größten Gewinne aller Parteien verbuchten und in Rheinland-Pfalz sogar den Sprung in den Landtag schafften, zeigen, daß bürgerlicher Protest inzwischen nicht nur eine Alternative hat. Zugewinne von Freien Wählern und FDP sollten die AfD ebenso alarmieren wie die Wählerwanderung, die in Richtung CDU gegangen ist. Für die momentane Formschwäche der Partei gibt es äußere Erschwernisse, die ihr nicht zuzurechnen sind, aber auch innere Mißstände, die sie abstellen muß. Nur wenn ihr das gelingt, kann die Partei etwas mehr und anderes sein als ein politisches Randphänomen: eine Alternative für Deutschland, die jene Kräfte zu bündeln vermag, derer es bedarf, dieses Land aus den Sackgassen herauszubringen, in die sie etablierte Parteien hineinmanövriert haben.
JF 12/21