BERLIN. Das Bundesinnenministerium soll mehrere Forschungseinrichtungen zu Beginn der Corona-Krise gebeten haben, die Situation bewußt dramatisch darzustellen, um harte staatliche Einschränkungen rechtfertigen zu können. Jetzt haben mehrere Oppositionspolitiker Aufklärung von Innenminister Horst Seehofer (CSU) gefordert.
Der innenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Konstantin Kuhle, sagte der Welt, es sei zwar gut, wenn sich die Politik mit der Wissenschaft in einem stetigen Austausch befinde. „Dabei dürfen die Rollen allerdings nicht vertauscht werden. Die Wissenschaft liefert Erkenntnisse und die Politik entscheidet. Wenn der Eindruck entsteht, daß wissenschaftliche Erkenntnisse von der Politik bestellt werden, um das eigene Handeln zu rechtfertigen, schadet dies dem Ansehen einer unabhängigen Wissenschaft und einer faktenbasierten Pandemie-Bekämpfung.“
Modellrechnung mit mehr als einer Million Toter
Er bat den Innenausschuß des Bundestags, das Vorgehen von Seehofers Behörde aufzuklären und den vollständigen Schriftverkehr einzufordern. Das Thema solle bei der nächsten Ausschußsitzung am Mittwoch diskutiert werden. Hintergrund ist ein Bericht der Welt am Sonntag, demzufolge das Innenministerium im März 2020 Wissenschaftler mehrerer Forschungseinrichtungen und Hochschulen eingespannt hatte, um Argumente für ein zunächst vertrauliches Papier zu liefern, das später helfen sollte, die harten Einschränkungen zu legitimieren.
Aus dem E-Mail-Verkehr zwischen den Behörden und Einrichtungen gehe hervor, daß das Innenministerium eine Analyse erstellen lassen wollte, um „Entscheidungen zu Maßnahmen und ihren Wirkungen einschätzen, vorbereiten und treffen“ zu können. Das Blatt zitierte Staatssekretär Markus Kerber mit den Worten, es gehe darum, „weitere Maßnahmen präventiver und repressiver Natur“ planen zu können.
Innerhalb von vier Tagen hätten die Wissenschaftler des Robert-Koch-Instituts, des Leibniz-Instituts für Wissenschaftsforschung, des Instituts der Deutschen Wirtschaft und der Stiftung Wissenschaft und Politik sowie mehrerer Universitäten eine Modellrechnung geliefert, die mehr als eine Millionen Tote prognostizierte, sollte es keine Einschränkungen des öffentlichen Lebens geben.
„Die Axt an unserer demokratische Grundordnung“
Zudem seien Vorschläge gemacht worden, wie man die „gewünschte Schockwirkung“ erzielen könne, um einen solchen Fall zu vermeiden. Dies sollte auch durch Bilder in den Köpfen der Menschen geschehen: „Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause.“
Der Vorsitzende der Linkspartei im Bundestag, Dietmar Bartsch, kritisierte gegenüber der Welt, Seehofers Haus habe der Pandemiebekämpfung „einen Bärendienst erwiesen“. Er sprach von einem Eigentor. „Wissenschaft muß Politik beraten – in der Krise Orientierung bieten und unabhängigen Rat geben.“ Bestellte Meinungen stünden jedoch im Widerspruch dazu.
Der stellvertretende FDP-Chef Wolfgang Kubicki ergänzte, das Innenministerium habe Kommunikationswerkzeuge verwendet, die er „eher bei autoritären Staaten vermutet hätte“. Wer in der Bevölkerung Angst erzeugen wolle, um politische Maßnahmen besser durchsetzen zu können, lege „selbst die Axt an unsere demokratische Grundordnung“. (ls)