Das Unheil kündigte sich am Abend des 30. Mai 1945 an. Gruppen bewaffneter Tschechen zogen in Brünn von Haus zu Haus. Alle Deutschen wurden aufgefordert, sich an bestimmten Plätzen der alten mährischen Hauptstadt einzufinden. Manchen blieben nur zwei Stunden Zeit zum Packen, bis zu 15 Kilo waren erlaubt. Andere mußten binnen Minuten ihre Wohnungen verlassen. Zentraler Sammelpunkt: der Mendelplatz beim Augustinerkloster in Altbrünn. Von dort aus setzte sich am nächsten Morgen ein Zug von etwa 30.000 Menschen, vor allem alte Männer, Frauen und Kinder, bewacht von „Revolutionären Garden“ und Soldaten, auf der Landstraße in Richtung österreichische Grenze in Bewegung.
Es war ein drückend heißer, früh-sommerlicher Tag. Um neun Uhr läuteten die Glocken zum Fronleichnamsfest. Viele der „Hinausgeführten“ (die amtliche, verniedlichende Bezeichnung für die ihrer Heimat Beraubten) waren bereits erschöpft, sie hatten die Nacht im Freien verbringen müssen. Wer zu langsam ging, wurde mit Gewehrkolbenstößen oder Peitschenhieben vorangetrieben. Es gab die ersten Toten. Wasser für die Durstigen wurde in Jauchefässern gebracht. Eine Frau schrieb in ihren Erinnerungen: „Als ich auf der Polizeidirektion einen Beamten bat, mich nach Hause gehen zu lassen, um mir wenigstens ein Stück Brot zu holen, bekam ich zur Antwort: ‘Wenn Sie kein Brot haben, wird der Weg zum Tode kürzer sein’.“
Tschechische Kollaborateure bewiesen besonderen Eifer
Der Tag endete in Pohrlitz (Pohořelice), 25 Kilometer von Brünn entfernt. Hier begann, wie sich Zeugen erinnerten, das große Sterben. Typhus und Ruhr setzten den Erschöpften zu. Wer sich nicht mehr weiterschleppen konnte, wurde erschossen und in den Straßengraben gestoßen. Etwa 10.000 Menschen konnte man nach Österreich „abschieben“, die anderen wurden in Scheunen, Baracken oder Fabrikhallen gepfercht. Der tschechische Historiker Tomáš Stan?k zitierte die Darstellung des Prager Ministeriums des Innern vom Dezember 1947. Danach verstarben in Pohrlitz insgesamt 408 namentlich belegte Personen. „Darüber hinaus wurden 77 Tote ausgewiesen, deren Identität nicht festgestellt werden konnte.“ Also 485 Opfer? Das dürfte gewaltig untertrieben sein. Andere Zählungen kommen auf etwa 5.200 Tote.
Am 6. Juni gab es noch einen weiteren Todesmarsch, über den aber kaum etwas überliefert ist. Massengräber säumten die Straßen in Richtung Wien. Der spätere österreichische Finanzminister und Vizekanzler Hannes Androsch (SPÖ) wurde als Kind Zeuge der Vertreibung seiner Verwandten aus ihrem mährischen Ort Piesling: „Sie gingen in ihrem schwarzen Sonntagsstaat. Zum Abschied sind sie niedergekniet und haben die Türschwelle geküßt.“ Mutter Lisa Androsch stellte den Siebenjährigen ans Fenster und sagte: „Schau dir an, was hier passiert. Du darfst es dein ganzes Leben nicht vergessen.“
Zu denen, die die „Ausweisung“ der Deutschen gefordert hatten, gehörten nachweislich Arbeiter aus den Brünner Rüstungsbetrieben, in denen bis fast zum letzten Kriegstag ohne Murren Granaten für die Wehrmacht produziert worden waren. Offenbar hatte sie ihr schlechtes Gewissen als Kollaborateure dazu getrieben, sich durch die Vertreibung der Deutschen reinzuwaschen. Als Hauptorganisator der Verbrechen gilt der Stabskapitän Bed?ich Pokorný. Der Mann unterhielt während der Protektoratszeit diverse Kontakte zur SS. Er machte nach 1945, inzwischen Mitglied der Kommunistischen Partei, Karriere im tschechischen Nachrichtendienst. 1968, im Jahr des Prager Frühlings, begeht er Selbstmord.
Die Vorgänge während des Todesmarschs sind ohne die blutrünstigen Reden des aus dem Exil zurückgekehrten Präsidenten Edvard Beneš nicht zu erklären. Am 12. Mai hatte er in Brünn an seine berüchtigte Londoner Rundfunkansprache vom 27. Oktober 1943 angeknüpft, die zu Massakern an den Sudetendeutschen geradezu ermunterte: „Wir haben uns gesagt, daß wir das deutsche Problem in der Republik völlig liquidieren.“ Vier Tage später putschte er seine Zuhörer auf dem Altstädter Ring auf: „Es wird notwendig sein (…), insbesondere kompromißlos die Deutschen in den tschechischen Ländern und die Ungarn in der Slowakei völlig zu liquidieren.“
Auch NS-Gegner wurden nicht verschont
Siebzig Jahre später, am 20. Mai 2015, beschloß der Stadtrat der mährischen Metropole Brünn (Brno) eine Entschließung, die an das Leid der Vertriebenen erinnerte: „Wir als Mitglieder der gegenwärtigen politischen Repräsentanz der Stadt wollen uns der Tatsache, daß wir politische Nachfolger derjenigen sind, die den Anstoß oder die stille Zustimmung zur Vertreibung von Familien aus ihrem Zuhause gaben, nicht entziehen. Damit wollen wir zum Prozeß des Ausgleichs mit dem Unrecht beitragen, welches einen beachtlichen Teil der Brünner Bevölkerung getroffen hat. Es liegt uns sehr an einer Versöhnung und gemeinsamen Zukunft.“ Gegen diese Erklärung stimmten die Kommunisten, die heute in Prag indirekt mitregieren. Einige Sozialdemokraten enthielten sich der Stimme ebenso wie Konservative aus dem damaligen Umfeld von Václav Klaus, der als Staatspräsident 1997 die umstrittene deutsch-tschechische Deklaration unterschrieben hatte.
„Der Todesmarsch war bei weitem kein spontaner Ausbruch während der Okkupation angesammelten Hasses, sondern eine gezielt geplante und organisierte Aktion“, befand die tschechische Initiative „Jugend für internationale Verständigung. „Da tobte der Mob“, erinnerte sich der ehemalige Parlamentspräsident Milan Uhde. Es sei nicht mehr unterschieden worden zwischen „mörderischen Herrenmenschen, Mitläufern oder Nazi-Gegnern“. An einem Versöhnungsmarsch beteiligen sich seit Jahren im Mai Sudetendeutsche und Tschechen. Wegen der Einschränkungen als Folge der Corona-Epidemie ist dieser Marsch in diesem Jahr am 12. September vorgesehen.