Andreas Ziegler liegt in einem Stuttgarter Krankenhaus. „Sein Zustand ist nach wie vor kritisch, lebensbedrohlich“, sagt Polizeisprecher Stephan Widmann gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Ziegler ist eines der Opfer des linksextremistischen Anschlags in Stuttgart vor der Corona-Demo am 16. Mai. Zum Stand der Ermittlungen möchte sich die Polizei aus ermittlungstaktischen Gründen nicht weiter äußern. Und während das Opfer mit schwersten Schädel- und Gesichtsverletzungen um sein Leben kämpft, rufen Linksextremisten zu weiteren Terrorakten auf – und schließen dabei Mord nicht aus. Doch wie erlebten die Opfer diesen grauenvollen 16. Mai in Stuttgart? Ingo Tuth war bei dem Anschlag dabei. Ihm retteten zwei Frauen das Leben.
„Wir waren auf dem Weg zur Demo“, erinnert sich Tuth gegenüber der JF. Gemeinsam mit zwei Kollegen von der Gewerkschaft Zentrum Automobil ist der Maschinen- und Anlagenbediener zu Fuß auf der Mercedesstraße unterwegs. Ihr Ziel ist der Cannstatter Wasen, der große Festplatz, auf dem sich wie jeden Samstag in den vergangenen Wochen tausende von Bürgern treffen, um gegen die Corona-Maßnahmen Regierung zu protestieren.
Organisiert hat die Demonstration Michael Ballweg, er wird an diesem Tag sein Engagement abstellen. Aus Angst vor Übergriffen auf seine Familie wird später erzählt werden. Am frühen Morgen waren schon drei große Laster auf einem Firmengelände im Stuttgarter Stadtteil Untertürkheim abgebrannt. Sie sollten die Technik für die Demonstration transportieren.
Die linksradikale Szene im Musterländle wächst
„Wir gingen auf dem Fußweg und sahen plötzlich rund 40 Vermummte auf der anderen Seite der Straße laufen. Ich hatte den Eindruck, daß das Linksextremisten sind. Ich habe die schon öfter auf Demos gesehen, die stiften immer Unruhe“, erzählt Tuth. Die linke Szene im Musterländle wuchs in den vergangenen Jahren exorbitant an. „In Baden-Württemberg liegt die Zahl der Linksextremisten derzeit insgesamt (nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften) bei 2.950 Personen, sie ist damit 2018 erneut gestiegen (2017: 2.780)“, berichtet der Verfassungsschutz. „Die Zahl gewaltorientierter Linksextremisten, überwiegend Autonome, hat sich 2018 mit 880 Personen (2017: 860) nochmals leicht erhöht.“ Linksextreme begingen im Jahr 2018 insgesamt 500 Straftaten, die politisch motiviert waren, davon 60 Gewaltdelikte. Auch den Angriff auf ein ZDF-Team in Berlin sollen Linksextreme aus Baden-Württemberg verübt haben.
„Wir dachten uns nichts weiter, ich hatte auch den Eindruck, daß die 40 weiter gehen. Doch plötzlich scherten zwei von denen aus der Gruppe aus. Die kamen bis auf die Mitte der Fahrbahn. Sie schauten auf mich und Andreas Ziegler. Dann schauten sie weg, so als ob die unschlüssig sind. Dann schauten sie uns wieder an. Wir waren vielleicht so drei Meter von denen entfernt. Dann hörten wir einen der beiden rufen: „Stopp! Schnell kommt zurück, hier sind zwei von denen.“
Ingo Tuth erkennt die Gefahr. Die zwei rufen ihre Schlägerkameraden zurück. „‘Andy, weg hier’, habe ich noch zu Andreas gesagt“, erinnert sich Tuth. „Dann drehte ich mich um und rannte los. Zwei der Typen waren hinter mir her. Der eine trat mir in die Wade, ich stolperte und fiel hin. Dann hat mir einer der Vermummten Pfefferspray ins Gesicht gesprüht. Ich schlug um mich. Mit der linken Hand erwischte ich irgendetwas – es war vermutlich sein Mund- und Nasenschutz. Der lag später auf dem Boden und dann hörte ich einen Schuß. Sehen konnte ich vor lauter Pfefferspray ja nichts.“
Zwei Frauen bringen Tuth in Sicherheit
Dann habe er eine Frau ganz laut brüllen hören. „Die schrie die Vermummten an. Und eine andere Frau stand plötzlich neben mir und rief: ‘Schnell kommen Sie, hier steht mein Auto.’ Sie führte mich zum Auto, riß die Beifahrertür auf und schob mich in die A-Klasse. Ich erinnere noch, daß die Lehne der Rückbank runtergelassen war. So lag ich fast in dem Auto.“
Durch den mutigen Einsatz der beiden Frauen ist Ingo Tuth in Sicherheit. „Aber beim Andreas ging es noch ein Stück weiter. Er lag auf den freien Parkplätzen am Straßenrand. Alle schlugen auf ihn ein.“ Durch die 40 Vermummten mitten auf der Straße stauen sich Autos. „Doch plötzlich hörte man Polizeisirenen – und die Linksextremen hauten ab.“
Die Beamten kümmern sich zuerst um den schwerstverletzten Andreas Ziegler. „Sie drehten ihn in eine stabile Seitenlage, legten eine Decke unter ihn. Mit Mullbinden haben sie versucht, seine Kopfverletzungen abzudecken. Es hat gefühlt sehr lange gedauert, bis die Rettungswagen kamen.“ Während die Polizei Andreas Ziegler hilft, stellt sich raus, daß die Linksextremisten auch den dritten Kollegen angegriffen haben. Der hatte versucht, Andreas Ziegler vor den Antifa-Schlägern zu retten. Er erleidet dabei einen Nasenbein- und einen Fingerbruch, dazu Hämatome auf und hinter dem Auge.
Nicht das einzige Gewaltdelikt an diesem Tag
„Während die Polizisten sich um die beiden kümmerten, konnte ich einen Polizisten an einem Flatterband stehen sehen, das zwischen zwei Bäumen gespannt war. Da bin ich hin und sah eine schwarze Pistole im Laub liegen. Und ein paar Meter lag die schwarze Maske, die ich meinem Angreifer vom Gesicht gerissen habe.“
Die Polizei kann keinen einzigen der 40 Extremisten fassen. „Später sah ich, daß die zwei Plastiktüten voller Klamotten wegtrugen. Schlagringe sollen sie auch gefunden haben. Außerdem nahmen sie die Maske und die Pistole mit.“
Der Angriff auf Andreas Ziegler war nicht das einzige Gewaltdelikt an diesem Tag. Nicht nur die Laster gingen in Flammen auf, sondern an diesem Samstag werden immer wieder Demonstrationsteilnehmer auf dem Weg zum Gelände angegriffen und Autoreifen zerstochen, wie die Stuttgarter Nachrichtenberichteten. Deshalb hat die Polizei jetzt zwei Ermittlungsgruppen eingerichtet. Eine, die sich um die Aufklärung der leichteren Delikte beschäftigt und eine andere, die sich um den Fall Ziegler kümmert. Polizeisprecher Widmann: „Aufgrund der Schwere der Tat, wurde von der Ermittlungsgruppe Wasen eine eigene Ermittlungsgruppe Arena abgetrennt.“
Die rechte Gewerkschaft Zentrum Automobil (ZA) hatte am vergangenen Freitag Spendenaktion auf dem Portal „Leetchi“ geschaltet. Dieses hatte die Spendenseite allerdings am Tag darauf kommentarlos entfernt, wie ZA-Sprecher Simon Kaupert der JF bestätigte. Anschließend sei ein Bank- und PayPal-Konto eingerichtet worden. Die Spenden sollen zum einen für die Behandlungskosten aufgewendet werden. Zum anderen sollen Gelder als Belohnung für sachdienliche Hinweise an die Polizei gesammelt werden, die zur Ergreifung der Täter führen. Ein Sprecherin von „Leetchi“ begründete auf JF-Nachfrage das Entfernen der Spendenseite wie folgt: „Auf Leetchi dürfen keine Sammelaktionen für die Belohnung der Ergreifung von Tätern erstellt werden. Private Fahndungsaufrufe sind gesetzlich untersagt und strafbar.“ Der ZA werden Verbindungen in die rechte Szene vorgeworfen. Ihr Chef Oliver Hilburger war Gitarrist der 2010 aufgelösten Rechtsrock Band „Noie Werte“. Hilburgers Aufnahmeantrag an die AfD wurde abgelehnt.
Unterdessen hat die „Antifa“ am Mittwoch ein Bekenntnis zu Gewalt veröffentlicht. Dabei beziehen sich die Linksextremisten ausdrücklich auf den Anschlag gegen Andreas Ziegler und seine Kollegen: „Die Auseinandersetzung war nicht sportlich und fair – das sollte aber auch nicht der Charakter einer ernsthaften antifaschistischen Intervention sein.“
Linksextreme rechtfertigen schwere Gewalttaten
Dieser Satz ist auf der Seite „Indymedia“ zu lesen. Die Gruppierung veröffentlichte ihn am 27. Mai um 17.24 Uhr. In dem Text geht es mit einer klassischen Täter-Opfer-Umkehr weiter: „Jede körperliche Auseinandersetzung birgt die Gefahr einer ungewollten Eskalation. Schon ein Faustschlag kann unter Umständen tödliche Folgen haben und trotz guter Vorbereitungen kann das Eskalationslevel vom Gegner in eine Höhe geschraubt werden, der man sich in der konkreten Situation nicht mehr entziehen kann.“
Es mutet schon fast kindlich naiv an, wenn die Linksradikalen von sich selbst behauten: „Wir sind keine Sadist*innen“, wenn sie dann ein paar Sätze weiter doch schreiben: „Sie (gemeint sind alle Nicht-Linksextremen, Anm. JF) sollen mit Schmerzen, Streß und Sachschaden rechnen und dadurch möglichst isoliert, gehemmt, desorganisiert und abgeschreckt werden.“
Der Text endet mit einer Drohung: „Warum wir es darüber hinaus aktuell für die antifaschistische Bewegung für gefährlich und nicht durchführbar halten, den Konfrontationskurs mit den Faschisten gezielt auf die Ebene von schweren/tödlichen Verletzungen zu heben: Wir gehen davon aus, daß wir als Bewegung momentan nicht stark genug wären, dieses Level in größeren Teilen und auf lange Sicht zu halten. Das gilt auch für den Repressionsdruck, den es zweifellos mit sich bringen würde. Uns ist klar, daß wir uns auf dieser Einschätzung nicht ausruhen können. Wenn der faschistische Mob wächst und sein Organisationslevel steigt, können andere Kampfformen notwendig werden.“
Ingo Tuth ist wahrlich kein schmächtiger, ängstlich wirkender Mann. „Ich war schon auf vielen Demonstrationen. Ich suche das Gespräch, nicht die Gewalt. Seit dem Samstag habe allerdings auch ich Angst.“