Die aktuelle Online-Ausgabe der Welt bringt einen Aufsatz Thomas Schmids mit der Überschrift „Von Sylt nach Moskau – Die linken Jahre der Welt“. Der Titel ist irreführend. Die Welt war niemals „links“ (nicht einmal mit Schmid als Chefredakteur), und die Verweise „Sylt“ und „Moskau“ geben auch dann nichts her, wenn man auf Sylt als Ort der ersten Begegnung von Axel Springer und Hans Zehrer rekurriert und auf Moskau als Ziel einer spektakulären Reise, die beide zusammen antraten, um die deutsche Einheit anzubahnen.
Allerdings wird an Schmids Text immerhin das deutlich: Mittlerweile glaubt man selbst im Springer-Verlag an einige jener Schwarzen Legenden, die im Hinblick auf den Gründervater und seinen „Mentor“ (Springer über Zehrer) umlaufen.
Deren Focus bildet die von Schmid aufgegriffene Erzählung, daß Zehrer zu den intellektuellen „Totengräbern“ der Weimarer Republik gehörte und später der „Mephisto“ des eigentlich gutherzigen Springer war. Was Schmid entgeht, ist die Tatsache, daß es im Leben Zehrers, der nicht nur ein sehr kluger, sondern auch ein sensitiver Mensch war, Umschwünge gegeben hat. In seiner Zeit als Leiter des Ressorts „Außenpolitik“ der liberalen Vossischen Zeitung vertrat er keineswegs dieselben Ansichten, die er nach Übernahme der Wochenschrift Die Tatund dann der Täglichen Rundschau äußerte.
Eine Querfront sollte Hitler verhindern
Es ist auch nicht so, daß es Zehrer aus Verbohrtheit „die Weimarer Republik verächtlich … machen und geistig sturmreif … schießen“ wollte. Allerdings war er ab 1929 von deren Dysfunktion überzeugt. Er beobachtete die „Auflösung“ (Karl Dietrich Bracher) des Staates und suchte nach einem Weg, dem zu begegnen und gleichzeitig Hitler den Weg an die Macht zu verlegen. Daß das so schwer war, hing nach Meinung Zehrers mit der Legitimität der Forderung nach einem „national-sozialen“ Ausgleich zusammen, jenem „Dritten“, das gleichermaßen gegen Kommunismus und Hitlerismus stand.
Wie Schmid den Ausgaben seiner eigenen Zeitung vom 20. und 21. März hätte entnehmen können, wählte Zehrer damals die einzige realistische Option: Übernahme der vollziehenden Gewalt durch die Reichswehr, am besten gestützt auf Schleichers „Querfront“ – von den Gewerkschaften bis zu den Anhängern Gregor Strassers in der NSDAP –, um einerseits die innere Lage zu befrieden, andererseits eine neue Ordnung vorzubereiten. Daß der Versuch fehlschlug, war kaum Zehrer anzulasten.
Offenbar sind Schmid diese historischen Zusammenhänge fremd. Man merkt das schon an den „Gleichsetzungsdelirien“ (Rüdiger Safranski), die ihn Zehrer einmal als Vertreter der „extremen Rechten“, einmal als „Nationalkonservativen“, einmal als „altmodischen Konservativen“, einmal als „konservativen Revolutionär“ auftreten lassen. Er begreift auch die Gründe für Zehrers Kaltstellung nach Hitlers Machtübernahme nicht. Für ihn war das das Pech des gescheiterten Konkurrenten.
Zehrer lebte zurückgezogen auf Sylt
Kein Wort über die Motive von Zehrers Rückzug, kein Wort über dessen Weigerung, sich von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen, obwohl die Ehe längst zerrüttet war und sich unter den neuen Bedingungen für Zehrer eine einfache Lösung angeboten hätte, kein Wort über die faktische Berufssperre und die Lebensgefahr im Rahmen der Mordaktionen von 1934. Stattdessen die irrige Behauptung, die Tat sei verboten worden. Tatsächlich übernahm sie im Oktober 1933 Giselher Wirsing, womit der Weg in die Bedeutungslosigkeit begann; 1939 folgte die Umbenennung in „Das XX. Jahrhundert“.
Zehrer lebte währenddessen zurückgezogen in einer besseren Kate auf Sylt. Dort lernte er Springer kennen. Daß Zehrer Springer imponierte, ist weniger rätselhaft als es Schmid scheinen will. Es war vor allem die Weite von Zehrers Horizont, die den Jüngeren beeindruckte, und Zehrers eigenwillige Hinwendung zum Christentum. Schon damals reifte in Springer die Überzeugung, daß man nach dem sicher erwarteten Zusammenbruch gemeinsam eine Zeitung „machen“ sollte. Allerdings führten die Verhältnisse im Nachkriegsdeutschland die beiden zuerst auf getrennte Wege. Zehrer war zwar schon 1946 als Chefredakteur eines neuen Blattes vorgesehen, das mit dem Titel Die Welt in Hamburg erscheinen und der direkten Kontrolle der britischen Besatzungsmacht unterstellt sein sollte. Aber dazu kam es nicht; Folge einer Intrige, an der neben lokalen SPD-Größen die Zehrer so verhaßten „left-liberals“ beteiligt waren.
Ein Jahr später übernahm er stattdessen die Spitze der von dem hannoverschen Landesbischof Hanns Lilje ins Leben gerufenen Wochenzeitung Deutsches Sonntagsblatt. Für Zehrers Stil typisch waren die Grundsatzartikel, mit denen er das aktuelle Geschehen in den größeren historischen Zusammenhang einordnete. Hier schlug sich auch das nieder, was Schmid Zehrer bestreitet: eine Reflexion der eigenen Rolle beim Zusammenbruch Weimars und eine Begründung für das, was zutreffend als „Selbstderadikalisierung“ (Jerry Z. Muller) der deutschen intellektuellen Rechten nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet worden ist.
Zehrer war die Abwehr des Totalitarismus wichtig
So erschien am 20. Mai 1951 ein Text Zehrers mit der Überschrift „Rechter Hand – linker Hand“, in dem er von SPD und CDU verlangte, ältere ideologische Feindschaften zu begraben und sich gemeinsam auf die entscheidende Gruppe der Bevölkerung – die „nationalsoziale Mitte“ – zu stützen. Der Untergang der ersten Republik habe seine Ursache im Scheitern der „Weimarer Koalition“ an dieser Aufgabe gehabt, so daß Hitler das „Arbeitsbürgertum“ wirkungsvoll mit der Behauptung täuschen konnte, es werde ihm gelingen, was Sozialdemokraten, Deutsche Demokraten und Zentrum nicht zustande gebracht hatten.
Wichtig war Zehrer dabei nicht nur die Stabilität im Inneren und Abwehr des Totalitarismus, sondern auch, eine Grundlage für das zu schaffen, was wieder „deutsche Politik“ sein würde. Dazu mußte man sich klar sein, daß keine der „Patronatsmächte“ an der Einheit Deutschlands interessiert war und der „Nationalbolschewismus“, also die Wiedervereinigung zu Moskaus Bedingungen, eine echte Versuchung werden könnte. An diesen Überzeugungen hat Zehrer auch festgehalten, als die Briten die Welt im Herbst 1953 an Springer verkauften und er die Chefredaktion übernahm. Vieles spricht dafür, daß Adenauer seinen Einfluß zu Gunsten Springers geltend machte. Natürlich nicht, ohne eine Gegenleistung zu erwarten: Die Welt sollte seinen Kurs der Westbindung – militärische und ökonomische Integration in den amerikanischen Block – unterstützen. Dazu waren aber weder Zehrer noch Springer bereit.
Diese Reserve hatte nichts mit der Ablehnung des neuen politischen Systems, nichts mit irgendeiner „linken“ Agenda zu tun, wie Schmid suggeriert. Dasselbe gilt übrigens auch im Hinblick darauf, daß Zehrer eine Reihe linker Journalisten einstellte oder solche, die in der NS-Zeit ihr Handwerk gelernt hatten. Es ging nicht um weltanschauliche Präferenzen, sondern um die Bewahrung einer heute ganz unvorstellbaren intellektuellen Offenheit. Zehrer interessierte nur die Qualität seiner Mitarbeiter und deren Bereitschaft, die Generallinie der Weltzu akzeptieren (noch nicht die späteren „Essentials“ des Springer-Verlags): Geistige Freiheit – Wiedervereinigung – Marktwirtschaft, – nicht mehr, nicht weniger.
Chruschtschow blieb unbeeindruckt
Auch anders als Schmid meint, stand für Zehrer, nachdem er die Chefredaktion der Welt übernommen hatte, der zweite Punkt im Vordergrund. Der Tod Stalins, die folgenden Aufstandsbewegungen im Osten und zuletzt der Erfolg Adenauers bei seinem Besuch in Moskau 1955, bestärkten ihn in der Überzeugung, daß dort der „Schlüssel“ zur Wiedervereinigung Deutschlands liege. Dementsprechend entwickelte sich die Welt zur wichtigsten Stimme eines maßvollen – die europäische Einigung bejahenden – Nationalneutralismus in der Bundesrepublik. Zehrer überschätzte sicher deren Bedeutung, was auch die im Grunde phantastische, aber für ihn nicht untypische Idee der Moskau-Reise erklärt, die er 1958 an der Seite Springers unternahm.
Das ins Auge gefaßte Interview mit Chruschtschow bildete kaum mehr als ein Vorwand, denn Verleger wie Journalist waren von ihrer Sache so überzeugt, daß sie meinten, den neuen starken Mann der Sowjetunion im direkten Gespräch überzeugen zu können. Das Ganze endete in einem Fiasko. Chruschtschow erklärte unverblümt, daß die Zeit für eine Beantwortung der Deutschen Frage mittels Neutralität vorbei sei, die Zukunft werde die Einheit unter kommunistischen Vorzeichen bringen.
Der Springer-Verlag wurde zum Haßobjekt der Linken
Springer und Zehrer kehrten ebenso ernüchtert wie enttäuscht zurück. Die neue Ausrichtung der Welt folgte, die nunmehr nicht nur Adenauer massiv zu unterstützen begann, sondern sich auch zur amerikanischen „Politik der Stärke“ bekannte. Das allein hätte schon genügt, den Springer-Verlag zum Haßobjekt der Linken zu machen. Hinzu kam aber noch etwas anderes. Ohne Zweifel hatte das Scheitern der Moskau-Mission das Vertrauensverhältnis zwischen Springer und Zehrer belastet. Zehrers Stellung wurde geschwächt. Aber der wachsende Einfluß der Kulturlinken führte Anfang der 1960er Jahre dazu, daß Springer sich der Fähigkeiten seines Chefredakteurs besann. Er stärkte dessen Position noch einmal, und im Herbst 1965 ging Zehrer daran, die Welt zu jenem „Kampfblatt“ umzubauen, als daß es der Generation Schmids in Erinnerung ist.
Damals, so Hans B. von Sothen, der die gründlichste Untersuchung zur Arbeit Zehrers in der Nachkriegszeit geschrieben hat, sammelte Zehrer „die wesentlichen konservativen Federn“ in der Redaktion der Welt: Armin Mohler, Winfried Martini, Matthias Walden, William S. Schlamm, Hans-Dietrich Sander und Hans Georg von Studnitz. Daß aus diesem Ansatz nicht mehr wurde, hatte entscheidend mit dem frühen Tod Zehrers zu tun, der bereits am 23. August 1966 verstarb.
Man darf schon sehr gespannt sein, ob und wie diese Entwicklung im Rahmen der Artikelreihe zum 75. Geburtstag der Welt behandelt wird, zu der auch Schmids Beitrag gehört.