„Ein Schlachten war’s, nicht eine Schlacht zu nennen!“ Dieser Rapport des Ritters Raoul aus Schillers „Jungfrau von Orleans“ könnte auch für die Geschehnisse um den Ort Halbe in Brandenburg stehen. Hier spielte sich eine der finalen Tragödien des Zweiten Weltkrieges in Gestalt einer Kesselschlacht ab.
Am 16. April 1945 hatte Generalstabschef Hans Krebs an die Männer des Heeres appelliert: „Jeder Soldat muß sich darüber im klaren sein, daß das Halten der Ostfront in keiner Phase dieses Krieges militärisch und politisch von ausschlaggebenderer Bedeutung war als jetzt! Der Führer vertraut mehr denn je darauf, daß der bewährte Ostkämpfer den unmittelbar bevorstehenden bolschewistischen Ansturm in einem Blutbad erstickt und damit die entscheidende Wende des Krieges einleitet.“
An jenem Tag treten zwischen Oderbruch und Neiße-Mündung zwei sowjetische Heeresgruppen zum Großangriff an: Die 1. Ukrainische Front unter Marschall Iwan Konjew und die 1. Weißrussische Front unter Marschall Georgi Schukow. Am 20. April folgt eine weitere Heeresgruppe, die 2. Weißrussische Front unter Marschall Konstantin Rokossowski, an der unteren Oder. Binnen weniger Tage erreichen ihre drückend überlegenen Angriffskeile Spremberg (19. April), Kamenz (20. April), Jüterbog und Zossen (21. April ) sowie schließlich Cottbus (22. April). Die Reichshauptstadt Berlin wird am 25. April eingeschlossen, nachdem sich die sowjetischen Angriffsspitzen im Westen bei Ketzin nördlich von Potsdam vereinigt haben.
Etwa 90.000 Soldaten werden eingeschlossen
Letzte Hoffnungen für einen erfolgreichen Gegenangriff ruhen nun auf der 12. Armee unter General Walther Wenck und der 9. Armee unter General Theodor Busse, die westlich von Frankfurt (Oder) mit etwa 90.000 Mann eingeschlossen ist. Voller Zweckoptimismus setzt Adolf Hitler alles auf ein militärisches Wunder in erster Linie durch die Armee Wenck. „Am 27. April herrscht im Führerbunker das Trugbild, als ob von drei Seiten Entsatzarmeen nahen … Alle Hoffnung richtet sich auf Wenck“, konstatiert Olaf Groehler in seinem Buch „Das Ende der Neuen Reichskanzlei“.
Walther Wenck, ein 44jähriger Generalstäbler, der erst am 1. April 1945 ein aktives Truppenkommando übernommen hat, ist mit seinen Männern materiell und personell total überfordert. Ein schwacher Vorstoß seiner Streitmacht kommt am 28. bei Ferch am Schwielowsee zum Stehen. Die Trümmer der 9. Armee und die nach Westen flüchtenden Zivilisten werden derweil in einem kleinen Waldgebiet zwischen Halbe, Storkow und Märkisch Buchholz von den sowjetischen Truppen zusammengedrängt.
Die letzten gepanzerten Einheiten der 9. Armee brechen auf Befehl General Busses, der zuvor ein Kapitulationsangebot abgelehnt hat, unter großen Verlusten in der Nacht vom 28. auf den 29. April 1945 aus dem Kessel von Halbe aus.
Der Ausbruch wird vom XI. SS-Panzerkorps als Stoßgruppe angeführt, unterstützt durch letzte Reste der Artillerie und Granatwerfer. Der erste Stoßkeil (er hat die Abschirmung des Ausbruchs nach Norden zur Aufgabe) wird von der Panzerabteilung der Panzergrenadierdivision „Kurmark“ sowie Resten der SS-Panzeraufklärungsabteilung 10 gebildet, der südliche Stoßkeil von der schweren SS-Panzerabteilung 500, einer Schützenpanzerkompanie und dem Grenadierregiment der Panzergrenadierdivision „Kurmark“.
Hitlerjungen und Volkssturmmänner
Das V. Armeekorps ist für die Rücknahme der Südflanke des Kessels verantwortlich, während das V. SS-Freiwilligen-Gebirgskorps den Durchbruch nach Westen und Norden als Nachhut sichern soll. Am 29. April brechen die deutschen Truppen zwischen Teupitz und Teurow an den Schwachstellen der Verteidigung der sowjetischen 54. und 55. Schützendivision ein und sickern in den Waldgebieten westlich der Straße Baruth und Zossen nach Westen durch. Im Wald östlich von Kummersdorf werden die Kolonnen von feindlichen Einheiten gestellt und erleiden schwere Verluste.
Etwa 25.000 deutsche Soldaten und etwa 5.000 Zivilpersonen erreichen über Hennickendorf am 1. Mai 1945 bei Beelitz südlich von Potsdam die Auffangstellung des deutschen XX. Armeekorps. Die 12. und 9. Armee bestehen zu diesem Zeitpunkt aus wenigen erfahrenen Frontsoldaten mit schweren Waffen, die von den Ausbildungsstätten der Wehrmacht herangezogen wurden. In ihren Reihen kämpfen meist Hitlerjungen neben umgeschulten Matrosen, Volkssturmleute neben Polizisten und SS-Männern sowie Angehörige des Reichsarbeitsdienstes (RAD).
Einer von ihnen ist der 17jährige Günther Lysk. Er erinnert sich in einem Beitrag für die Gedenkstätte Seelower Höhen in Brandenburg: „Manchmal hatten wir drei Tage lang gar nichts zu Essen. Endlich schlugen wir uns zum Dahme-Fluß durch.“ Der bildete eine natürliche Barriere von Süd nach Nord, mit nur wenigen Übergängen. „Dort stauten sich die zurückweichenden Soldaten, die flüchtenden Zivilisten. Ihre Reihen und Kolonnen waren kilometerlang, bestanden aus Menschen, Fahrzeugen, Waffen, Fuhrwerken. Ein Großteil des Materials bleibt liegen. Wer sich auf den Straßen anstellte, um den Übergang zu passieren, der riskierte Beschuß aus der Luft. Wer unter den Bäumen ausharrte, kam nicht voran, während der Feind unaufhaltsam näher rückte.“
Zielloses Umherirren
Auch der Zustand der von Schlachtfliegern gejagten Infanteristen präsentierte sich erbärmlich. „Wir waren verlaust, verdreckt, viele hatten die Krätze, darunter auch ich“, schrieb Soldat Heinz Maether in seinen Erinnerungen an Halbe. Wolfgang Limpack, der sich in diesen Tagen mit 18 Granatsplittern im Bein Richtung Westen schleppt, erinnerte sich an „ein zielloses Umherirren auf der Flucht vor der Roten Armee, ein Kanonengedonner, ein Sterben und Dahinsiechen, ein Hungern und Hoffen. Überall lagen Tote, zum Teil stapelweise. Jeder Angriff kostete gleich Hunderte Menschenleben.“
Soldat wie Offizier haben nur einen Wunsch, der sie fast eine Woche lang unaufhörlich vorwärts treibt: nicht in die erbarmungslose Gefangenschaft der Sowjets zu fallen. Am Abend des 1. Mai beginnen die Absetzbewegung von Wencks 12. Armee über Wollin zum Brückenkopf an der Elbe; verbliebene Artillerie unterstützt die Nachhut, welche ihre Stellungen zwischen Treuenbrietzen und Niemegk aufgibt und über Belzig nach Schönhausen folgt. Bei Tangermünde, an den Resten der gesprengten Elbbrücke, geraten die Überlebenden schließlich in die angestrebte US-amerikanische Kriegsgefangenschaft.
Während der Kesselschlacht von Halbe starben 30.000 deutsche Soldaten, dazu mindestens 10.000 Zivilisten sowie sowjetische Zwangsarbeiter. Die Verluste der Roten Armee betrugen 20.000 Tote. Rund 22.000 Opfer der Schlacht liegen jetzt auf dem Waldfriedhof in Halbe. Nur 8.000 von ihnen sind namentlich bekannt.
JF 18/20