Das Baltikum begegnete mir erstmals auf einem Ladenschild. Unter dem Namen des Briefmarkenhändlers meines Vertrauens, bei dem ich als Knirps regelmäßig mein Taschengeld ablieferte, stand der Schriftzug „Gegründet in Riga 1919“. Weder war mir klar, was das bedeutete, noch wo Riga lag, noch was es mit dem Besitzer auf sich hatte. Nur gerüchteweise hieß es, daß er zu jenen Baltendeutschen gehörte, die kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs „heim ins Reich“ geholt worden waren, der dann als Soldat in der Wehrmacht diente und schwer versehrt zurückkam; es fehlten ihm beide Hände. Er galt in Sammlerkreisen als Autorität, war aber auch ein verbitterter – wahrscheinlich dauernd unter Schmerzen leidender – Mann.
Angesichts der großen Zahl von Vertriebenen, die nach 1944/45 ihre Heimat verloren, sind diejenigen rasch aus dem Blick geraten, die dieses Schicksal schon nach 1918/19 erlitten. Damals hatten die Baltendeutschen bereits in größerer Zahl Estland und Lettland verlassen. Aber anders als die Deutschlothringer oder Deutschelsässer besaßen sie in der Weimarer Republik und der NS-Zeit einen deutlicher erkennbaren Einfluß. Der erklärte sich nicht nur aus einer langen Verbundenheit mit den Führungsschichten im alten Vaterland, sondern auch aus der Tatsache, daß sie in der Regel einer Elite angehört hatten.
Deren Stellung war zuerst kriegerisch – durch die Vorstöße des Deutschen und des Schwertbrüderordens in den baltischen Raum –, dann ökonomisch – durch die Ostsiedlung und die Vorrangstellung der Hanse in der Ostsee – gewonnen und für Jahrhunderte gehalten worden. Der Ordensstaat durfte für das Mittelalter als erstaunlich effizientes politisches Gebilde gelten, und trotz der Einbußen, die er in Folge der wachsenden Macht seiner Nachbarn hinnehmen mußte, konnte er sich bis ins 16. Jahrhundert halten. Die Hanse war da nur noch ein Schatten ihrer selbst. Aber die großen Städte des Baltikums waren stolz auf die hansische Tradition, hatten vielfach eine deutsche Bevölkerungsmehrheit und blieben ganz selbstverständlich unter der Kontrolle eines deutschbaltischen Bürgertums.
Die Loyalität der Baltendeutschen war sprichwörtlich
Das feudalisierte sich im Laufe der Zeit, während der ältere deutsche Adel von seinen großen Gütern auf dem Land die Masse der baltischen Bevölkerung in Untertänigkeit hielt. Daran änderte wenig, daß die Region später ganz oder in Teilen an Polen, Schweden und Rußland kam. Die neuen Herren bedienten sich in der Regel der Baltendeutschen für ihre Zwecke. Deren Loyalität war sprichwörtlich, und im 18. Jahrhundert wuchs der Einfluß des baltendeutschen Adels am Hof von St. Petersburg derart, daß einem russischen Offizier, der auf Avancement hoffte, in den Sinn kam, den Zaren darum zu bitten, ihn doch „zum Deutschen [zu] befördern“.
Auf den ersten Blick könnte man den Eindruck gewinnen, daß das Gemeinte gut am Beispiel eines Mannes zu illustrieren wäre, der zwar einen ursprünglich schottischen Namen trug – Michael Andreas Barclay de Tolly –, aber doch ganz selbstverständlich zum baltendeutschen Adel gerechnet wurde. Barclay de Tolly trat schon als Junge in die russische Armee ein und machte eine steile Karriere. Er brachte es bis zum Generalfeldmarschall und Kriegsminister. Sein strategisches Vermögen wie sein persönlicher Mut waren unbestreitbar. Deshalb betraute der Zar ihn nach dem Einmarsch Napoleons 1812 mit dem Oberkommando über seine Truppen.
Da Barclay de Tolly um die Überlegenheit der Grande Armée wußte, befahl er den geordneten Rückzug und die Zerstörung aller Güter und Einrichtungen, die dem Feind nutzen konnten. Diese Strategie der „verbrannten Erde“ sollte zwar letztlich die Niederlage Napoleons besiegeln, aber der Brand von Moskau und die Zerstörung von Smolensk wurden von Hofkreisen dahingehend ausgelegt, daß „der Deutsche“ Verrat an Rußland begangen habe. Barclay de Tolly verlor seine Stellung und wurde durch Kutusow abgelöst, dem letztlich der Ruhm des Siegers über Napoleon zufiel.
Das Deutsche Reich vergaß die Baltendeutschen
Der Zar entzog Barclay de Tolly allerdings seine Gnade nicht ganz, sondern zeichnete ihn mehrfach aus, unter anderem durch die Erhebung in den Fürstenstand. Aber im Bewußtsein der russischen Öffentlichkeit blieb der Makel. Der Eindruck wurde noch durch die verzerrende Darstellung Barclay de Tollys in Tolstois Roman „Krieg und Frieden“ verstärkt. Immerhin hat der Dichter Alexander Puschkin versucht, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: „Unglücksreicher Feldherr! Wie dein Schicksal dich so karg bedachte / Ob dein Herz dem fremden Lande Alles gleich zum Opfer brachte / … / Jenes Volk, dem du zur Rettung von der Schande ausersehen / Wagt im frechen Übermut dein heilig Greisenhaupt zu schmähen.“
Als das Gedicht 1834 erschien, blieb den Baltendeutschen noch die Frist einer Generation, bevor jene Politik einsetzte, die alle „rußländischen“ Untertanen des Zaren zu „Russen“ machen sollte. Das geschah auf administrativem Weg, vor allem indem man die Verwendung einer anderen als der russischen Sprache in Druckwerken oder im Unterricht erschwerte oder ganz verbot. Eine Folge war, daß die bekannte Universität des in Estland liegenden Dorpat (heute Tartu) 1893 die Lehre in deutscher Sprache aufzugeben hatte und die Stadt selbst in russisch „Jurjew“ umbenannt wurde.
Der Vorgang selbst hatte symbolischen Wert, und die Baltendeutschen mußten sich mit einer Situation abfinden, in der das Anwachsen der baltischen – bis dahin geringschätzig als „undeutsch“ bezeichneten – Bevölkerung und deren Emanzipationswille sie ebenso unter Druck setzte wie die Maßnahmen der Regierung des Zaren. Rückendeckung fanden sie nirgends. Auch nicht im gerade gegründeten Deutschen Reich. Bekannt ist die Empfehlung Bismarcks, der die Beziehungen zu St. Petersburg unbedingt erhalten wollte, gegenüber dem russischen Botschafter in Berlin: „Unterdrückt sie nur, aber sorgt dafür, daß sie nicht schreien.“