Bis zum 30. April 1945 hat der Krieg das vorpommersche Demmin verschont. Alte Schwarzweiß-Fotos zeigen eine Kleinstadt mit historischem Stadttor, Fachwerkhäusern und stattlichen Gründerzeitbauten. Das spätbarocke Rathaus dominiert den Marktplatz, der von Bürgerhäusern gesäumt wird; im Hintergrund ragt die dreischiffige St. Bartholomäus-Kirche mit einem 90 Meter hohen Turm auf. Es gibt ein Ulanendenkmal und ein Ehrenmal für die Gefallenen.
Im Norden, Süden und Westen wird Demmin von den Flüssen Peene, Trebel und Tollense umfaßt, die sich hier, 50 Kilometer südlich von Stralsund und nahe der Landesgrenze zu Mecklenburg, treffen. Der Peene-Hafen, die Zuckerfabrik, Molkereien und sonstiges Kleingewerbe bilden das wirtschaftliche Rückgrat. Offiziell zählt die Stadt gut 15.000 Einwohner; jetzt kommen Tausende Flüchtlinge aus dem Osten hinzu.
Während in Berlin der fatale Führer endlich den Entschluß zur Selbstabschaffung faßt, ziehen in der Frühe Wehrmacht und SS nach Westen ab. Hinter sich sprengen sie die Brücken über die Peene und Tollense. Ab dem Vormittag rückt die Rote Armee kampflos ein, es sind Soldaten der 65. Armee der 2. Weißrussischen Front.
Die Hölle bricht los
Zeitzeugen erinnern sich an junge Männer asiatischer Herkunft, die weder elektrischen Strom noch Wassertoiletten, noch Armbanduhren kennen. Am Kirchturm von St. Bartholomäus und an vielen Häusern wehen weiße Fahnen und Laken. Gleichwohl feuern indoktrinierte Hitlerjungen auf die Soldaten. Ebenso der NS-affine Studienrat Moldenhauer, der einer Nachbarin erklärt: „Ich habe eben meine Frau und meine Kinder erschossen, nun will ich noch ein paar Russen umlegen.“ Danach erhängt er sich.
Panzer rücken nach. Die Armee-Einheiten wollen weiter nach Nordwesten, nach Rostock, doch wegen der zerstörten Brücken ist kein Weiterkommen. Demmin verwandelt sich in „ein unruhig brodelndes Heerlager“, schreibt Florian Huber in seinem Buch über den „Untergang der kleinen Leute 1945“. Die so reizvolle Einbettung in die Flußlandschaft erweist sich für die Stadt und ihre Bewohner als tödliche Falle, niemand kann mehr hinaus. Schon am Nachmittag dringen Soldaten in die Häuser ein, rufen „Uri, Uri“ und „Frau, komm!“, sie plündern und vergewaltigen.
In Demmin wird auch Bier gebraut und Schnaps gebrannt, das ist das zweite Verhängnis. Die Depots der Brennereien und die Spirituosenläden sind gut gefüllt, als die Soldaten sich über sie hermachen. Später heißt es, einer oder mehrere Offiziere seien in der Wohnung eines Apothekers an vergiftetem Wein gestorben, mit dem die Apothekerfamilie sich das Leben genommen hatte. Dies habe eine Racheorgie ausgelöst. Jedenfalls bricht die Hölle los, die bis zum 4. Mai andauert.
Ganze Familien werden ausgelöscht
Hunderte Frauen, Mädchen, Greisinnen werden brutal vergewaltigt. Männer, die ihre Frauen schützen wollen, werden erschossen. Soldaten bestreichen die Häuser in der Innenstadt mit Benzin und zünden sie an. Löschversuche werden verboten. 365 Häuser werden vernichtet, das Stadtzentrum wird zur Ruinenlandschaft.
Panik breitet sich aus. Hunderte Frauen, aus Scham über die Vergewaltigungen oder um dieser zu entgehen, stürzen sich mit ihren Kindern in die Peene. Viele haben sich Steine um den Leib gebunden. Andere nehmen Gift, erhängen sich, versuchen die Pulsadern zu öffnen. Ganze Familien werden ausgelöscht. Manche Suizidversuche mißlingen, weil die Schnitte an den Handgelenken quer statt längs gesetzt werden und nur die Sehnen beschädigen, was lebenslange Beeinträchtigungen zur Folge hat.
Noch nach Wochen werden Leichen angeschwemmt. Rund 1.000 Tote werden geschätzt, wobei die Dunkelziffer hoch ist. Es ist der größte Massenselbstmord der deutschen Geschichte, doch bei weitem nicht der einzige in Vorpommern und Mecklenburg. In Burg Stargard, Neubrandenburg, Neustrelitz, Penzlin, Rechlin, Tessin, Teterow, Vietzen und anderswo sind es jeweils Hunderte, die sich das Leben nehmen. Eine alte Lehrerin aus Demmin schreibt in ihr Tagebuch: „Freitote, am Sinn des Lebens irre geworden.“
Zu DDR-Zeiten sind die Verbrechen ein Tabu
Der Irrsinn setzt sich fort. Mit dürftigen Mitteln wird die Stadt nach 1945 wiederaufgebaut. Ihr Anblick ist grottenhäßlich, aber ehrlich; er entspricht ihrer inneren Verfaßtheit. Über das grausige Geschehen wird hier wie überall ein Mantel des Schweigens gebreitet. Wer ihn lüftet, und sei es im Suff, bringt sich in Gefahr.
Höchstens im privaten Kreis kann man reden, doch das Thema ist mit Scham befrachtet, und man muß aufpassen, daß die Kinder nicht dabei sind und mit dem Gehörten hausieren gehen. Verbrechen der Roten Armee kann und darf es in der DDR nicht gegeben haben. Die Rotarmisten waren keine schnöden Eroberer, sondern gelten als Befreier, die den DDR-Deutschen die Chance auf ein Leben im Sozialismus eröffnet haben.
In der Innenstadt wird ein 22 Meter hoher Obelisk zu Ehren der Roten Armee errichtet. Der 8. Mai wird als „Tag der Befreiung“ begangen, an dem Partei und Staat, Werktätige und Schüler den Sowjetsoldaten ihren Dank abstatten. In Demmin ist das besonders makaber. Hier geht die Demütigung tatsächlich so weit, „daß jemand unter Bedingungen gesetzt wird, in denen Überleben und Sichtreubleiben sich ausschließen“ (Arnold Gehlen). Das Massengrab der Toten von 1945 verwildert, teilweise wird die Fläche für den Rübenanbau genutzt.
8. Mai mittlerweile wieder „Tag der Befreiung“
Doch völlig auslöschen läßt sich das Geschehen nicht. In der Agoniephase der DDR wird an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald eine Dissertation mit dem Titel „Die antifaschistisch-demokratische Umwälzung in der Stadt und im Kreis Demmin“ vorgelegt. Unter staatskonformen Rückversicherungen schmuggelt die Autorin eine Schilderung des Massensuizids ein. Ein Anfang ist gemacht.
Ende gut, alles gut? Das Dritte Reich, der Krieg, der Einmarsch der Roten Armee, die SED-Herrschaft und ihre Lügen – das war, so die heutige Erzählung, eine Abfolge von Gewalterfahrungen. Doch mit der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung hätten Freiheit und Wahrheit auch im Osten Einzug gehalten.
Im Dokumentarfilm „Überleben in Demmin“ geht Regisseur Martin Farkas der Frage nach: „Warum wir so sind wie wir sind.“ Der kommunale Angestellte will um Gottes Willen nichts Verfängliches sagen, schließlich ist der 8. Mai in Mecklenburg-Vorpommern seit 2002 als „Tag der Befreiung“ wieder ein staatlicher Gedenktag. Befreit worden zu sein, meint er, damit seien 1945 manche nicht zurechtgekommen.
„Demmin wird noch bunter“
So schwingt die NPD sich am 8. Mai zum Repräsentanten des Verdrängten und zum Rächer der Opfer auf mit Trauermärschen, die an Schwarze Messen erinnern: „Kein Vergeben, kein Vergessen.“ Die Antifa hält lautstark dagegen: „Ihr habt den Krieg verloren!“, und übt sich alljährlich im „kreativen Protest“, bei dem Konfetti-Kanonen, Klopapier-Rollen und Feuerwerkskörper zum Einsatz kommen. 2016 werfen Antifa-Aktivisten Sex-Gummipuppen in die Peene: Verwirrte Kinder eines verwirrten Landes auch sie.
Auf dem Marktplatz präsentiert sich die demokratische Zivilgesellschaft mit Luftballons, einer Hüpfburg für die Kleinen und transparenten Bekenntnissen, daß Demmin bunt bleibt und Flüchtlinge willkommen heißt. Von Gitarrenklängen begleitet, wird „We shall overcome“ angestimmt.
Im Ideenwettbewerb „Machen!2019“ für ostdeutsche „Projekte, die zusammenbringen“, belegt das „Demminer Aktionsbündnis 8. Mai“ in der Hauptkategorie „Bürgerschaftliches Engagement“ einen hervorragenden 2. Platz. In Anerkennung des Projekts „8. Mai 2020 – Demmin wird noch bunter“ überreicht der Ostbeauftragte der Bundesregierung ein Preisgeld in Höhe von 12.500 Euro.
Der sowjetische Obelisk ist inzwischen abgeräumt, das historische Rathaus wieder aufgebaut, und auf dem Friedhof erinnert eine Tafel an einem Gedenkstein an den Massenselbstmord 1945. Die Aufschrift lautet: „Freitote, am Sinn des Lebens irre geworden“.
JF 19/20