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Wege zur deutschen Einheit: Als die Macht der Mächtigen zerbröselte

Wege zur deutschen Einheit: Als die Macht der Mächtigen zerbröselte

Wege zur deutschen Einheit: Als die Macht der Mächtigen zerbröselte

Hans-Dietrich Genscher
Hans-Dietrich Genscher
Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (Mitte vor dem Fensterkreuz rechts) verkündet am 30. September 1989 auf dem Balkon der Deutschen Botschaft in Prag: Ausreise der DDR-Flüchtlinge ist erlaubt Foto: dpa
Wege zur deutschen Einheit
 

Als die Macht der Mächtigen zerbröselte

Der Zerfall der kommunistischen Staaten schreitet unaufhaltsam fort. Alle negativen Tendenzen, die seit den siebziger Jahren zu erkennen sind, verschärfen sich. Eine Erinnerung an eine Klassenfahrt im September 1989. Von Karlheinz Weißmann.
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September 1989: Das Pärchen steht etwas ratlos auf dem Wenzelsplatz im Zentrum Prags. Die beiden schauen nach allen Seiten, als ob sie etwas suchen und unterhalten sich in erkennbar sächsischem Tonfall. Schließlich gehen sie auf mich zu und fragen höflich, ob ich aus der Bundesrepublik komme. Ich bejahe und nach kurzem Zögern erzählen sie mir ihre Geschichte. 

Sie hatten aus dem Westfernsehen erfahren, daß sich in der Botschaft der Bundesrepublik immer mehr DDR-Flüchtlinge sammelten. Der Druck auf die SED-Führung wachse und man hoffe auf irgendeine Übereinkunft zwischen Bonn und Ost-Berlin. Sie hätten eines der letzten Schlupflöcher genutzt, seien nur mit kleinem Gepäck in ihrem Trabant aufgebrochen. Um keinen Verdacht zu erwecken – wer sich als DDR-Bürger im Innenstadtbereich Prags aufhielt, mußte mit seiner Festnahme rechnen –, hatten sie ihren Wagen am Stadtrand abgestellt und sich dann auf den Weg ins Zentrum gemacht. Aber jetzt wüßten sie nicht weiter. Ob ich ihnen vielleicht sagen könnte, wo sich die Botschaft befinde.

Ich erwiderte, daß die Entfernung unbedeutend sei, aber die tschechoslowakische Miliz alle Zugänge kontrolliere. Wenn sie überhaupt eine Chance haben wollten, müßten sie bis zum Abend warten und eine der kleineren Straßen wählen. Den Weg könnte ich ihnen auf ihrem Stadtplan zeigen. Etwas betreten schauten mich die beiden an. Sie hatten keinen Stadtplan, waren bis dahin mit Durchfragen weitergekommen und nun etwas ratlos, da sie schon der Kauf einer Karte verdächtig machen konnte. Ich zückte also meinen Stadtplan mit der weiland berühmten Patentfaltung, markierte mit einem Kugelschreiber die Botschaft und unseren Standort. Dann drückte ich ihnen den Plan in die Hand. Sie bedankten sich, wir verabschiedeten uns und ich wünschte ihnen viel Glück.

Der Zerfall schritt unaufhaltsam fort

Ich weiß nicht, ob die beiden es geschafft haben. Aber die geschilderte Szene hat sich so oder so ähnlich im September 1989 hundert-, wenn nicht tausendfach abgespielt. Der Zerfall der kommunistischen Staaten schritt unaufhaltsam fort. Alle negativen Tendenzen, die seit den siebziger Jahren zu erkennen waren – die permanente Versorgungskrise, die Auflösung der Infrastruktur, der wachsende Abstand zur technischen Entwicklung im Westen –, verschärften sich. Der „Gulaschkommunismus“, die Köderung der Bevölkerung mit Konsum, bei Aufrechterhaltung des Systems, war ebenso gescheitert wie der Versuch, die alten Methoden der Repression weiter anzuwenden.

In Prag ging die Partei- und Staatsführung zwar noch rigoros gegen Dissidenten vor, aber die Massenproteste, die sich spontan ausbreiteten, wollte oder konnte man schon nicht mehr mit Gewalt niederwerfen. Das Machtmonopol der KP erschien immer mehr als brüchige Fassade. Die allgegenwärtige Kontrolle durch die „Organe“ bestand zwar nach wie vor, aber in dem Jugendhotel, in dem ich damals mit zwei Schulklassen untergebracht war, lief ununterbrochen der Bayerische Rundfunk, der in jeder Nachrichtensendung triumphierend eine neue Rekordzahl von Flüchtlingen in der Botschaft meldete.

Unser offizieller Begleiter durfte seinen Beruf als Tierarzt seit dem „Prager Frühling“ von 1968 nicht mehr ausüben und versammelte uns in einem Schulungsgebäude der Partei nur zu dem Zweck, um dort – relativ abhörsicher – nach dem unsäglichen Vortrag eines Funktionärs zum sozialistischen Bildungssystem ein Referat über die Wirklichkeit des gottlosen Kommunismus zu halten. Wenn er von dem „großen Verewigten“ sprach, meinte er Franz Josef Strauß, die Rundfahrt mit dem Bus diente auch dazu, uns die Zentrale der Geheimpolizei zu präsentieren, mit der Anmerkung, daß dorthin die Mitglieder der oppositionellen „Charta ’77“ gebracht worden waren.

Das alles erscheint heute bizarr. Die „Wende“ von 1989 ist fern gerückt, aber nicht nur das. Es herrschen Deutungen vor, denen zufolge der Zusammenbruch des Sowjetsystems entweder als wunderbarer Beginn universaler Grenzenlosigkeit oder als Sieg der „Zivilgesellschaft“ zu betrachten ist. Nichts davon trifft den Kern der Sache. Man hatte es vielmehr mit dem Kollaps totalitärer Regime zu tun, die nicht einfach an der Unfähigkeit ihres Personals, der desolaten Versorgung oder der Absurdität ihrer Ideologie zugrunde gingen.

Führung durch den Dom mit einer Taschenlampe

Vielmehr zeigte sich hier etwas von Hegels dialektischer Beziehung zwischen „Herr“ und „Knecht“. Nur auf den ersten Blick ist deren Beziehung eindeutig bestimmt durch das Machtgefälle zwischen beiden. Aber ohne die prinzipielle Zustimmung des „Knechts“ zu diesem Gefälle, ohne dessen Bereitschaft, die Legitimität der Macht des Mächtigen zu akzeptieren, kann das Verhältnis keinen Bestand haben. Wenn der „Knecht“ den Glauben an die Legitimität der Machtausübung des „Herrn“ verliert, hebt er seine Zustimmung auf, und damit kommt die Machtbeziehung so oder so an ihr Ende.

Beschleunigt wird ein solcher Vorgang, wenn der „Herr“ selbst nicht mehr von seinem guten Recht überzeugt ist. Als ich im Sommer 1989 auf verschiedenen Reisen in der DDR war, gehörte das zu den stärksten Eindrücken: Leute, die ganz sicher der Staatssicherheit berichteten, baten ungeschützt um Hilfe, ein Ökonom erklärte, nachdem er die offiziellen Phrasen wiederholt hatte, hinter vorgehaltener Hand, daß die Comecon-Staaten längst bankrott seien und auch die produktivste Wirtschaft des Ostens – die der DDR – mit keiner westlichen konkurrieren könne. Lehrer äußerten, daß die meisten ihrer Schüler „Antis“ – also faktisch Systemfeinde – seien.

Eindrucksvoll war die Pfarrwitwe, eine sehr zierliche und kleine Dame, die man in Naumburg als Ersatz-Stadtbilderklärerin rekrutiert hatte, da die hauptamtliche „rübergemacht“ war. Die Führung durch den Chor des Doms erledigte sie mit Hilfe einer Taschenlampe, da man einmal mehr den Strom abgestellt hatte, und leuchtete jeder Stifterfigur ins ausdrucksvolle Gesicht. Zum Schluß versammelte sie uns am Stadtbrunnen, kletterte die Stufen hinauf, um etwas größer zu sein, und meinte, wir führen nun in den freien Teil „unseres Vaterlandes“, und da sollten wir beten für die „Brüder und Schwestern im Osten“.

Beschleunigung der Ereignisse

Das wurde nur noch überboten von dem Erlebnis in einer Meißener Kneipe, wo mich ein paar Arbeiter als „Westler“ erkannten. Sie luden auf ein Bier ein, und als die gefüllten Gläser vor uns standen, hob der Wortführer seins, um anzustoßen, und sagte: „Auf die Einheit!“

Das Jahr des Mauerfalls prägte eine zunehmende Beschleunigung der Ereignisse. Was im Frühling noch ausgeschlossen schien und im Sommer bestenfalls eine unwahrscheinliche Möglichkeit, rückte im Herbst in den Bereich des Möglichen. Als ich aus Prag zurückgekehrt war, zeigte das Fernsehen abends den damaligen Außenminister Genscher, der den im Garten der Botschaft Wartenden erklärte, daß die DDR-Regierung ihrer Ausreise zugestimmt hatte. Die Verblüffung und Erleichterung entlud sich in einem Jubelsturm. Mehr zeigen die Aufnahmen nicht. Aber es lief das Gerücht um, die Flüchtlinge hätten spontan „Deutschland, Deutschland über alles“ angestimmt.

JF 40/19

Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (Mitte vor dem Fensterkreuz rechts) verkündet am 30. September 1989 auf dem Balkon der Deutschen Botschaft in Prag: Ausreise der DDR-Flüchtlinge ist erlaubt Foto: dpa
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