Große gesellschaftliche Umbrüche und Entwicklungen lassen sich in der Regel erst mit einigem zeitlichen Abstand angemessen bewerten und einschätzen. Der Nato-Doppelbeschluß ist so ein Beispiel: Galt er vielen zu Anfangs als sicherer Weg in den dritten Weltkrieg, führte er innerhalb weniger Jahre zu einer Annäherung von Sowjetunion und den USA und läutet somit letztlich das Ende des Ost-West-Konflikts ein.
Wenn es hingegen um die Beurteilung der deutschen Flüchtlingspolitik seit dem Spätsommer 2015 geht, sind sich bundesrepublikanische Historiker schon jetzt einig. „Migration ist eine historische Konstante. Ungeachtet aller mit ihr verbundenen Probleme hat sie die beteiligten Gesellschaften insgesamt bereichert – auch die deutsche.“ So steht es in der vom Historikerverband Ende September auf dem Historikertag in Münster verabschiedeten Resolution zu „gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie“.
Die dort versammelte Historikerschaft forderte, auf eine „aktive, von Pragmatismus getragene Migrations- und Integrationspolitik“ hinzuarbeiten, „die sowohl die Menschenrechte als auch das Völkerrecht“ respektiere. Doch damit nicht genug: In ihrer Resolution sprachen sich die Historiker auch für „eine historisch sensible Sprache“ und „gegen diskriminierende Begriffe“ wie „Volksverräter“ und „Lügenpresse“ aus. Denn in diesen zeige sich die „antidemokratische Sprache der Zwischenkriegszeit“.
„Geschlossene Einheitsfront der Wohlmeinenden“
Als weitere Gefahren für ein „demokratisches Miteinander“ wurde zudem „Populismus“, „nationalistische Alleingänge“ und der „politische Mißbrauch von Geschichte“ benannt. Auch wenn die AfD in der Resolution nicht explizit erwähnt wurde, war klar, gegen wen sie sich richtete.
Doch mittlerweile wächst die Kritik an der Erklärung des Historikerverbands und daran, wie diese zustande kam. Die beiden Historiker Dominik Geppert (Potsdam) und Peter Hoeres (Würzburg) werfen den Verantwortlichen „Gruppendruck und Bekenntnissen“ vor.
In einem Gastbeitrag für die FAZ monieren die Autoren, auf dem Historikertag habe eine „möglichst geschlossene Einheitsfront der Wohlmeinenden“ demonstrieren wollen, „daß die deutsche Geschichtswissenschaft die Zeichen der Zeit diesmal rechtzeitig begriffen hat und zum kollektiven Widerstand gegen die Mächte der Finsternis entschlossen ist“. Der Vorschlag, geheim über die Resolution abstimmen zu lassen, sei von einem der Initiatoren niedergemacht worden, da das „vermeintlich moralisch Richtige“ per Akklamation zur Geltung gebracht werden sollte.
„Bündnis mit dem vermeintlichen Zeitgeist“
Auch die Anregung, neben Begriffen wie „Volksverräter“ und „Lügenpresse“ auch solche Totschlagvokabeln wie „Nazi“ und „Rassist“ zu verurteilen, wurde abgelehnt. „Die Stoßrichtung ‘gegen rechts’ sollte nicht verwässert werden: Antitotalitarismus war gestern. Antifaschismus ist (wieder) angesagt“, beklagen Geppert und Hoeres.
Es sei fast peinlich, wie sich heutige Kritiker Heinrich von Treitschkes „wieder ins Bündnis mit der Regierung und dem vermeintlichen Zeitgeist begeben“. Neben vielen Brüchen gebe es offenbar auch tief verwurzelte Kontinuitäten in der deutschen Geschichte.
Daran, daß einige Historiker sich zu Fragen der Gegenwart äußern wollten, sei gar nichts auszusetzen, schrieben die beiden. Nur sollten sie dies im eigenen Namen tun – und nicht das ganze Fach dafür in Haftung nehmen. Der diesjährige Historikertags habe unter dem Leitthema gestanden: „Gespaltene Gesellschaften“. Dieses Motto sei durch die „wohlfeile Resolution“ nun in den Verband hineingetragen worden.
„Antidemokratischen Haltung (im Namen der Demokratie)“
Mit ihrer Kritik stehen Geppert und Hoeres indes nicht allein: Kurz nach dem Ende der Tagung beklagte der Historiker Michael Wolffsohn in einem Brief an die Geschäftsführerin des Historikerverbands, Nora Hilgert, die Organisation verhalte sich, als besäße sie ein allgemeinpolitisches Mandat.
Unter dem Vorwand der AfD-Kritik mische er sich in die Parteipolitik ein. Damit maße sich der Verband die „Verkörperung der Volontée Générale an“. Mit einer „letztlich so antidemokratischen Haltung (im Namen der Demokratie)“ könne und wolle er sich bei aller Wertschätzung der AfD-Ablehnung nicht anfreunden, schrieb Wolffsohn in dem ebenfalls in der FAZ abgedruckten Brief.