In der Wohnung meiner Großmutter standen die Familienbilder auf einem Vertiko, einem jener schmalen Zierschränke, die oft zur bürgerlichen Einrichtung gehörten. Darunter drei, die junge Männer mit ernstem Gesichtsausdruck zeigten, in Uniform, keine Schnappschüsse, sondern sorgfältig von einem Fotografen aufgenommen. Eines vom ältesten Sohn, der als Militärarzt eingerückt war und erst nach langen Jahren russischer Gefangenschaft zurückkehrte, die anderen von den beiden jüngeren mit Trauerflor, der regelmäßig erneuert wurde.
Der zweite hatte sich bei Beginn des Krieges freiwillig gemeldet, ohne seinen Eltern etwas zu sagen, unbekümmert, begeistert wie so viele von den leichten Siegen im Westen, stolz auf den schwarzen Rock der Panzertruppe, abenteuerlustig. In einem seiner Briefe schrieb er noch, daß er die Rauchfahnen der russischen Häuser über Moskau sehen könne, dann kam ein letzter, ahnungsschwerer und dann keiner mehr, nur noch die Nachricht von seinem Tod. Der letzte wurde erst 1944 eingezogen, eben den Meisterbrief in der Tasche und frisch verlobt, wegen eines Lungenleidens bis dahin untauglich, aber in letzter Stunde mobilisiert, zuerst für die Brandbekämpfung nach den Bombardements, dann bei den Abwehrkämpfen in Ostpreußen, wo sich seine Spur verlor.
Es gab keine spannenden Geschichten und keine Helden
Die Namen der beiden toten Söhne hat meine Großmutter mit auf den Grabstein ihres Mannes setzen lassen. Ein Moment der Irritation für uns Kinder, denen man sagte, daß die Toten dort nicht lagen, sondern irgendwo in fremder Erde oder gar nichts von ihnen übrig war, was man hätte bestatten können. Verstörend wie die Rede von „Gefallenen“, von denen, die „im Krieg geblieben“ waren, oder die Begegnung mit Männern, die wir scheu beobachteten, weil man sie „blindgeschossen“ hatte, sie sich an ihren Prothesen abmühten, oder die tiefe Traurigkeit und die Zornesausbrüche derer, in denen Granatsplitter wanderten oder die die Spuren der Mißhandlung in irgendeinem Lager an Leib und Seele trugen und vor jedermann zu verstecken suchten.
Das Ganze wurde den Nachgeborenen nur allmählich klar. Der Krieg jedenfalls, den wir als Kinder spielten, war etwas anderes, eine unschuldige Sache, der Krieg, der sie getroffen hatte, war ein großes dunkles Verhängnis, eine sehr ernste Sache der Erwachsenen, kein Gegenstand der Neugier oder vorwitziger Bemerkungen. Darüber konnten nur die etwas sagen, die dabeigewesen waren. Sie taten das meiner Erinnerung nach selten und jedenfalls nie als Landsererzählung. Es gab keine spannenden Geschichten und keine Helden, wie sie sich die jugendliche Phantasie ausmalte, nur das Glück davongekommen zu sein, ein paar unbeschwerte persönliche Augenblicke trotz allem, sonst lastende Schwere, Erinnerung und Trauer über die Toten.
Auf den Volksbund ging die Initiative zur Schaffung des Gedenktages zurück
Der Volkstrauertag gehörte selbstverständlich in diesen Zusammenhang, der erste von den „stillen Sonntagen“ im November, wenn Radio und Fernsehen ausgeschaltet blieben und man ruhig auf dem Zimmer zu bleiben hatte. In der Zeit davor standen Soldaten mit der Sammelbüchse auf den Gehwegen, die Passanten hielten kurz an, gaben ihren Beitrag und erhielten den Anstecker aus Kunststoff mit den fünf Kreuzen, dem Emblem des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge.
Auf den Volksbund, der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gegründet wurde, ging die Initiative zur Schaffung des Gedenktages für die Gefallenen zurück. Wie jeder symbolische Akt der Weimarer Zeit war auch dieser scharf umkämpft, nicht einmal über das Datum konnte Einigkeit erzielt werden, geschweige denn über die Frage, ob es sich um ein Toten- oder ein Heldengedenken handeln sollte. In der NS-Zeit fiel die Entscheidung zugunsten von letzterem, während die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg zwar Zeitpunkt und Deutung festlegte, aber gleichzeitig und mit Grund vertraute, daß Orts- und Kirchengemeinden eine würdige und angemessene Form der Gestaltung wählen würden.
Erst in den siebziger Jahren begannen linke Gruppen die Feiern zu stören
Tatsächlich hat sich dieser stillschweigende Konsens lange gehalten, wurden die Denkmäler für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs um die Namen der Gefallenen des Zweiten ergänzt oder neue errichtet, lagen in den Kirchen die Totenbücher aus, erschienen die Veteranen mit ihren Vereinsfahnen am Volkstrauertag zum Gottesdienst, nahm der Geistliche an der folgenden Kranzniederlegung teil und sprach die passenden Worte. Erst in den siebziger Jahren änderte sich alles. Pastoren begannen, Soldaten in Uniform den Zutritt zum Gottesdienst zu verweigern, die Fahnen sollten nicht mehr in den Kirchraum. Linke Gruppen störten die Feiern, griffen die Teilnehmer an, beschmierten, demolierten, schleiften die Denkmäler.
Widerstand dagegen gab (und gibt) es kaum, aber hier und da faule Kompromisse. Man ließ die Veranstaltungen hinter Polizeikordons in irgendwelchen Winkeln abhalten, versetzte die Monumente, widmete sie um oder „ergänzte“ sie durch solche für Deserteure. Vor allem aber wurde der Volkstrauertag inhaltlich entkernt. Es sollte weder vom „Volk“ noch von dessen „Trauer“ um die gefallenen Soldaten länger die Rede sein; bestenfalls fanden die sich eingereiht in die lange Reihe der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, oder auch das nicht mehr, weil irgendjemand darauf kam, daß „Täter“ keine „Opfer“ sein könnten.
Eine Entfremdung ohne Beispiel, eine Erkrankung, tief eingefressen
Man muß diesen Vorgang als Teil eines größeren begreifen, in dem die Deutschen von ihrer Vergangenheit als Gemeinschaft getrennt und abgeschnitten wurden. Eine Entfremdung ohne Beispiel, eine Anomalie, die nur so und nicht anders bezeichnet werden darf, eine Erkrankung, so tief eingefressen, daß man ihr Ausmaß und ihr Vorschreiten nur aus der Distanz und im Vergleich erkennt.
Vielleicht wenn man eine Kapelle irgendwo in Englands anschaut und dort die künstlichen Mohnblüten mit den kleinen, blanken Holzkreuzen findet, auf denen die Namen „unserer Helden“ stehen, und nebeneinander der eines Ehemannes, der vor Monaten in Afghanistan starb, eines Vaters, der im Kampf gegen die Mau-Mau sein Leben ließ, eines Bruders, der 1940 als Jagdflieger fiel, eines anderen Familienmitglieds, das 1916 auf See geblieben ist. Oder man hört die Worte eines Franzosen, der das Selbstverständliche sagt: „Die Seelengröße eines Volkes erkennt man daran, wie es nach einem verlorenen Krieg seine gefallenen und besiegten Soldaten behandelt“ (Charles de Gaulle).
JF 47/14