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Vom Staatsbürger zum Kundenbürger

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Die Bundesrepublik wird am 23. Mai sechzig. Das sind zwei Generationen Wertewandel: weg von der reichsdeutschen Kriegsgesellschaft, hin zur postmodernen Konsumgesellschaft. Deren Orientierung an individuellen Werten hat inzwischen den älteren, gemeinschaftsfixierten Typus nicht nur in Deutschland fast vollständig abgelöst. 

Der Augsburger Historiker Andreas Wirsching, der diesen Prozeß in der jüngsten Ausgabe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (2/2009) nachzeichnet, erklärt damit zugleich die Berge linker wie rechter Kulturkritik an der „modernen Massengesellschaft“ zur Makulatur. Denn alle Zeichen deuteten darauf hin, daß diese Daseinsform mit ihrer Tendenz zur Transnationalisierung und Universalisierung nicht auf Europa und Nordamerika begrenzt bleibe. Ihr unaufhaltsamer globaler Triumphzug habe nach dem Umbruch von 1989/90 erst richtig an Fahrt gewonnen und werde das weltgesellschaftliche Gesicht des Planeten im 21. Jahrhundert formen.

Nicht mehr durch Volk, Klasse, Nation oder Religion, kaum noch in der Familie oder Gemeinde vollziehe sich die gesellschaftliche Integration, sondern durch Teilhabe am Konsum. Der Staatsbürger verwandelt sich in den „Kundenbürger“. Die grenzenlose Attraktivität der Konsumgesellschaft und des sie konstituierenden „autonomen Individuums“ scheint rätselhaft, wenn man Jean Baudrillards „klassisch“ gewordene kulturkritische Blitzdiagnose aus dem Jahr 1970 bedenkt, die auch Wirsching eingangs zitiert: „Die moderne Hausfrau hat eine Waschmaschine erworben – das bedeutet eine nachhaltige Rationalisierung der Hausarbeit, was wiederum Zeit spart. Wie aber wird die Hausfrau die gewonnene Zeit verbringen? Sie wird den Fernseher anstellen und sich die TV-Werbung für Waschmaschinen ansehen.“

Bei aller Zustimmung, die Wirsching für die dominierende „Wertkombination aus Hedonismus und Materialismus“ bekundet, bei allem Beifall für die Konsumgesellschaft, die er zum „Sieger der Geschichte“ ausruft, zum Sieger über die „kriegerisch-gewaltsame europäische (und insbesondere deutsche) Geschichte des 20. Jahrhunderts“, sieht sich Wirsching nicht nur durch Baudrillard auf die „Grenzen des konsumistischen Paradigmas“ verwiesen.

Zu deutlich werde sichtbar, daß die konsumgestützte „Autonomie des modernen Individuums“ wohl eine „scheinbare“ sei. „Manipulative Elemente“ überwögen, die „Tendenz zur Uniformierung“ sei nicht zu bestreitbaren. „Bewußtseinsformierung“ und „Kulturindustrie“ dürften alle Leser der „Dialetik der Aufklärung“ hier sofort assoziieren, obwohl Wirsching Horkheimer und Adorno nicht nennt. Dafür immerhin den von beiden nicht ganz unbeeinflußten Sozialphilosophen Charles Taylor, der nach der Qualität jenes „Glücks“ fragt, das Konsum verschaffe. Was ist das für ein Individuum, das sich durch Werbung animieren läßt und sich durch Ware „verwirklicht“? Und steht die Konsumgesellschaft nicht sozialökonomisch auf wackligen Füßen? Sie bindet die kulturelle Partizipation am Konsumglück an Erwerbsarbeit.

Aber nicht nur durch Entindustrialisierung und Globalisierung erleben wir die Erosion der „Arbeitsgesellschaft“, die Freisetzung von „Überzähligen“. Am Horizont der schönen neuen Konsumwelt dämmern bereits „grobe Gegensätze“ herauf. Friedrich Pohlmann hat gerade im Merkur (Heft 720/09) am Verfall eines beliebigen, von „Vergreisung und Arbeitslosigkeit“ geschlagenen Wohnviertels in dieser Republik veranschaulicht, wie deprimierend ein „abfallendes Lebensgefühl“, ein „müde gewordener Bewegungs- und Lebensrhythmus“ außerhalb der Shopping Malls bereits viele Regionen der Bundesrepublik und deren Beitrittgebiets nach 1990 lähmt.

Es zeugt daher von Realismus, wenn Wirschings so weitgehend affirmative Überschau skeptisch ausklingt mit der Frage: Beruht die Konsumgesellschaft auf Voraussetzungen, die sie langsam, aber sicher aufzehrt? Jedenfalls wäre es verfrüht, sie als „Endzustand“ der Geschichte zu bejubeln, denn: „Ihre Bewährungsprobe steht noch aus.“ 

Foto: Konsumtempel in Leipzig: Die hedonistische und materialistische Gesellschaft als Sieger über die kriegerisch-gewaltsame europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Leider ist die kulturelle Partizipation am Konsumglück größtenteils noch an Erwerbsarbeit gebunden.

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