Vor der Neuen Wache in Berlins Mitte, diesem zur „Kranzabwurfstelle“ degenerierten „Erinnerungsort“, schlurft lustloses Wachpersonal in überlangen Hosen und zu weiten Anoraks auf und ab, eine per Kohl-Ukas so aufgeblähte wie verunstaltete Kollwitz-Bronze umschleichend. Den plazierten, längst aus Hartz IV herausgefallenen, die Euro-Umstellung sympathisch unbelehrbar verleugnenden Schreihals, der bellt: „Hamse mal nen Jroschen ibrich?“, wollen die Schlurfer lieber nicht verscheuchen. An „Würde“ gewänne der Ort dadurch ohnehin nicht.
Angesichts solcher Verwahrlosung kostet es keine Überwindung, sich in die jüngst so in Schwung gekommene DDR-Nostalgie einzuklinken. Denn bis 1990 zog hier die Wache auf, preußischer Stechschritt, hallende Kommandos, der Hohenfriedberger erklang und der Marsch des Yorkschen Korps. Immerhin: ausgerechnet unter dem SED-Regime ein Rest von Formgefühl und der Sinn für Tradition, wenn auch „antifaschistisch“ umgebogen. Auch der Vizeadmiral Hans-Joachim Stricker, „Befehlshaber der Flotte“ in der Deutschen Marine, erinnert, allerdings ohne DDR-Bezug, in seinem Geleitwort zu einer von deutschen und britischen Militärhistorikern beschickten Aufsatzsammlung über die Skagerrakschlacht daran, daß es Unter den Linden einmal anders zugegangen sei. Bis 1944 zog am 31. Mai, dem Gedenktag der bis heute größten Seeschlacht, die zwischen „Dickschiffen“ je stattgefunden hat, die sogenannte „Skagerrakwache“ auf. Ein Ehrendienst, den an diesem Tag vornehmlich die Marinesoldaten aus Pillau, Swinemünde und Kiel versahen.
Irrationalität des Tirpitzschen Flottenprogramms
Daran liegt unserem gesinnungstüchtigen Vizeadmiral freilich gar nichts. Denn wie weit wir uns zum Glück vom „31. Mai“ entfernt hätten, beweise der „14. Juni“. Zwar kräht kein Hahn nach diesem Tag. Es sei denn, man erinnert sich an den Einmarsch deutscher Regimenter in Paris an jenem strahlenden Freitagmorgen 1940. Aber Stricker glaubt fest daran, daß alle wüßten, warum auf seinen grauen Pötten just dann der „große Flaggenschmuck“ angelegt werde. Weil dies nämlich der Gründungstag der ersten deutschen Flotte sei – der von 1848, in Gestalt der drei überdies im großdeutschen Geiste segelnden Nuckelpinnen, die militärisch zwar nicht das Rad erfanden, aber gleichwohl von Stricker für die „freiheitlich, demokratische Ordnung“ vereinnahmt werden: als „Flotte der Paulskirche“, die bekanntlich unter „liberalem Vorzeichen“ die „deutsche Staatsgründung verfolgte“.
Bis hierher klingt die Rezension wie eine einzige ärgerliche Abschweifung. Dabei sind wir mitten im Thema. Denn der vom Verlag so generös ausgestattete, fast bibliophile Bedürfnisse befriedigende Band, den es hier anzuzeigen gilt, ist von der ersten bis zur letzten Zeile durchsetzt mit diesem Strickerschen, so archetypischen BRD-Ressentiment der Selbstpreisgabe, dem zufolge „Skagerrak“, die von der deutschen Hochseeflotte 1916 siegreich bestandene Seeschlacht gegen Britanniens Grand Fleet, coûte que coûte, niemals mehr den bundesrepublikanischen Erinnerungsspeicher belasten möge.
Aus den zwei ideologiegesättigten Seiten des Strickerschen Geleitworts läßt sich die Summa der deutschen Beiträge des Bandes nach scholastischer Manier mit Leichtigkeit deduzieren: Skagerrak sei kein deutscher Sieg, die Schlacht offenbare nur die „Irrationaliät“ des Tirpitzschen Flottenprogramms, die Unfähigkeit der deutschen Seekriegführung und schließlich die verfehlte, „antibritisch“ orientierte, bis in die Anfänge der Bundesmarine hineinreichende Traditionsstiftung, die sich an dieses angeblich unglückliche Treffen knüpfe.
Alleinige Schuld des Reichs am Rüstungswettlauf
Die abschließenden, wie stets gemeinschaftskundetauglichen „Reflexionen“ des Kieler Emeritus Michael Salewski („90 Jahre Skagerrakschlacht“) muß man sich danach nicht mehr antun. Einen derart meinungslastigen, zeitgeistgeschwängerten Choral bundesdeutscher Bekenntnisfreudigkeit konterkarieren allein die fünf Aufsätze britischer Marinehistoriker. Allerdings widersteht vor allem Nicholas Rodger der Versuchung nicht, sich deutscher Steilvorlagen zu bedienen und nunmehr seinerseits von alleiniger Schuld der wilhelminischen Marineführung am „Rüstungswettlauf“ mit dem natürlich keineswegs „perfiden Albion“ zu schwadronieren.
Michael Epkenhans, Jörg Hillmann, Frank Nägler (Hrsg.): Skagerrakschlacht. Vorgeschichte – Ereignis – Verarbeitung. R. Oldenbourg Verlag, München 2009, gebunden, 390 Seiten, Abbildungen, 34,80 Euro
Foto: Am 6. Juni 1916 erreicht der in der Skagerrakschlacht schwerbeschädige Schlachtkreuzer SMS Seydlitz Wilhelmshaven: Unfähigkeit der „antibritisch“ orientierten deutschen Seekriegführung als Traditionsstiftung bis in die Anfänge der Bundesmarine