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ESN-Fraktion, Europa der souveränen Nationen

Anweisungen zur historischen Wahrheit

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Am 30. Dezember 2005 wurde eine von mehr als 40.000 Personen unterzeichnete Petition bei dem französischen Präsidenten Jacques Chirac eingereicht. Bekannte Linkspolitiker wie François Hollande (PS), Marie George Buffet (PCF) oder Dominique Voynet (Grüne) fordern die Aufhebung des Artikels 4 des Gesetzes vom 23. Februar 2005, der seit mehreren Monaten eine breite Debatte ausgelöst hat. Der umstrittene Artikel lautet: „Die universitäre Forschung räumt der Geschichte der französischen Präsenz auf anderen Kontinenten, vor allem in Nordafrika, einen gebührenden Raum ein. Die Lehrpläne in den Schulen stellen insbesondere die positive Rolle der französischen Präsenz auf anderen Kontinenten, unter anderem in Nordafrika, dar und räumen der Geschichte und den Opfern der Kämpfer der französischen Armee in diesen Gebieten den wichtigen Platz ein, der ihnen zusteht.“ Auch drei andere Gesetze regeln historische Betrachtung Die Verabschiedung dieses von der Regierungspartei UMP verfaßten Gesetzes hatte schon heftige Reaktionen linker Intellektuelle, Journalisten und Politiker ausgelöst. Dieses Gesetz vergesse „die Wirklichkeit der Kolonisation“ und sei ein „Befehl, der den Historikern gegeben ist, damit sie eine offizielle Fassung der Geschichte lehren“, wie der Fraktionsvorsitzende der Sozialisten, Jean-Marc Ayrault, erklärte. Proteste gegen das „Gesetz der Schande“ wurden von linken Vereinen in den überseeischen Départements organisiert, so daß UMP-Chef Nicolas Sarkozy eine auf der Höhe seiner Popularität unmittelbar nach seinem erfolgreichen Durchgreifen bei den November-Unruhen in den Banlieues geplante Reise auf die französischen Antillen verschieben mußte. Im Parlament forderte die sozialistische Fraktion die Streichung des Paragraphen, was Ende November von der UMP-Mehrheit abgelehnt wurde. Von da an weitete sich die Diskussion auf die Beziehung zwischen Politik und Geschichte aus. „Die Geschichte ist kein Rechtsgegenstand. In einem freien Staat ist es weder Sache des Parlaments noch der Justiz, geschichtliche Wahrheit zu definieren.“ So erklärten 19 Historiker in einem Manifest „Freiheit für die Geschichte“, das Mitte Dezember unterzeichnet wurde. Unterzeichner sind neben den bekannten Größen der etablierten Geschichtswissenschaft – Marc Ferro, Alain Decaux oder Michel Winock – auch Professoren wie René Rémond oder Maurice Vaïsse, die am Institut de Sciences politiques von Paris lehren, der berühmten Hochschule, die als obligatorische Vorbereitungsstufe für die von den zukünftigen Politikern besuchte Ecole nationale d’administration gilt. Die Aufhebung aller einschlägigen Gesetze, „auch wenn sie auf den besten Absichten beruhten“, sei allein deshalb vonnöten, da Geschichte grundsätzlich nicht Sache der Politik sei. Neben dem umstrittenen Gesetz vom 23. Februar erwähnen die 19 Historiker drei ältere Gesetze, die die Geschichte zum Gegenstand haben und „eines demokratischen Regimes unwürdig sind“. Das erste („loi Gayssot“ vom 13. Juli 1990) sieht Sanktionen für diejenigen vor, die die Existenz der in Artikel 6 des Statuts des internationalen Militärgerichts von Nürnberg definierten Menschheitsverbrechen leugnen, deren Urheber rechtskräftig verurteilt wurden. Das zweite betroffene Gesetz, das am 29. Januar 2001 verabschiedet worden ist, schreibt die offizielle Haltung Frankreichs zu dem im Jahre 1915 von der Türkei gegen die Armenier begangenen Genozid fest. Im dritten erwähnten Gesetz vom 21. Mai 2001 wird erklärt, daß die universitäre historische Forschung „dem Sklavenhandel einen gebührenden Raum einräumen muß“. Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung, am 20. Dezember, distanzierten sich 32 weitere Historiker, Soziologen, aber auch Anwälte mittels eines neuen Aufrufs vom Protest der 19 Historiker. Deren Manifest „Freiheit für die Geschichte“, so die Kritik, bringe einen „höchst tadelnswerten Artikel“ (Gesetz über die Kolonisation) unzulässig mit den drei anderen Gesetzen in Verbindung, die schließlich nur „Menschheitsverbrechen und Genozide benennen“, um „die Würde der Opfer zu schützen“. Die verantwortlichen Politiker versuchen unterdessen, die Gemüter zu beruhigen: Noch vor diesen Manifesten hatte Chirac bereits am 9. Dezember die Schaffung eines parlamentarischen Arbeitskreises angekündigt. Dieser solle die Beziehung zwischen Parlament, Geschichte und Gedenken diskutieren. „In der Republik gibt es keine offizielle Geschichte. Nicht das Gesetz muß die Geschichte schreiben, sondern die Historiker“, erklärte Chirac reuig. Er forderte die Regierung dazu auf, die Schaffung der „Stiftung für das Gedenken“, die im umstrittenen Kolonisations-Gesetz vorgesehen war, zu beschleunigen. Seinerseits hat Innenminister Sarkozy, der das Gesetz vom 23. Februar als „lediglich ungeschickt formuliert“ betrachtet, einen anderen Arbeitskreis gegründet, der auch zum Ziel hat, sich mit der Beziehung zwischen Geschichte, Politik und Gedenkpflicht zu befassen. Frankreich sei nämlich von der „Versuchung einer ständigen Reue“ bedroht, so Sarkozy. Als Direktor für diesen Arbeitskreis hat Sarkozy den Anwalt Arno Klarsfeld ernannt. Er ist der Sohn des jüdischstämmigen Schriftstellers Serge Klarsfeld, der für seine systematische Verfolgung ehemaliger Kollaborateure des NS-Regimes bekannt ist. Ein verbitterter Kampf um die Deutungshoheit beginnt Die linksorientierte „Bewegung gegen den Rassismus und für die Freundschaft zwischen den Völkern“ (MRAP), die regelmäßig die territoriale Politik Israels gegen die Palästinenser anprangert, hat diese Ernennung jedoch scharf kritisiert. Klarsfeld sei ein „Verteidiger der israelischen Kolonisation“ und habe „weder Kompetenz noch Legitimität für eine solche Aufgabe“, so der Generalsekretär des MRAP, Mouloud Aounit. Klarsfeld antwortete wütend, daß er vermute, Mouloud Aounit habe dieselbe Meinung „wie der iranische Präsident Mahmoud Ahmadineschad, der der Ansicht ist, daß die Juden im Nahen Osten nichts zu suchen haben“. So hat das ursprüngliche Engagement von Linksparteien gegen das Gesetz vom 23. Februar 2005, das aus der Tradition des kommunistischen Antikolonialismus stammte, mittlerweile über die grundsätzliche Debatte zum Verhältnis von Politik und Geschichte zu einem Import der Nahost-Problematik nach Frankreich geführt. Die Schärfe der Auseinandersetzung läßt allerdings vermuten, daß hier ein verbitterter Kampf um die Deutungshoheit erst begonnen hat. „Soldaten im Gespräch mit algerischen Dorfbewohnern“ – Französische Propagandapostkarte aus dem Algerienkrieg, um 1960: Die positive Rolle, die den Kämpfer der Armee in diesen Gebieten zusteht foto: Picture Alliance/AKG

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