Zwischen dem Vatikan und jüdischen Organisationen, besonders denen aus den USA, ist eine neue Kontroverse entbrannt. Bekanntlich protestierten die Ostküstenorganisationen seit geraumer Zeit gegen die Absicht des Vatikans, Papst Pius XII. selig- und danach heiligzusprechen. Pius XII. soll angeblich während des Zweiten Weltkrieges weniger für die Rettung des europäischen Judentums getan haben, als ihm möglich gewesen wäre. In diesem Kontext wurde in verschiedenen Gremien die Öffnung der umfangreichen Archive des Vatikans gefordert. Zwar hat Rom schließlich zugesagt, der wissenschaftlichen Forschung die Archive zu öffnen, obwohl schon ein mehrbändiges amtliches Druckwerk über die Rolle der Katholischen Kirche im Zweiten Weltkrieg vorliegt. Zunächst aber müssen noch weitere Unterlagen, die bisher unangetastet gelagert sind, geordnet und erfaßt werden. Eltern wurden katholisch getaufte Kinder vorenthalten Die neue Kontroverse entstand, nachdem am 28. Dezember 2004 der Mailänder Corriere della Sera ein Dokument aus den Pariser Archiven des ehemaligen Päpstlichen Nuntius in Frankreich, Erzbischof Angelo Roncalli – der spätere Papst Johannes XXIII. -, veröffentlichte. Eine Mitarbeiterin des Archivs (die anonym bleiben wolle) soll ein „Resümee“ eines Briefes entdeckt haben, in dem die Kongregation des Heiligen Offizium, die heutige Glaubenskongregation, eine Anweisung erteilt. Nach dieser sollen jüdische Kinder, die während der Judenverfolgungen zu ihrem Schutz in die Obhut katholischer Institutionen oder Personen gegeben wurden, nach Kriegsende den Eltern nicht zurückgegeben werden, insofern sie katholisch getauft wurden. Übrigens erfreute sich die Kongregation des Heiligen Offizium bekanntlich „uneingeschränkter Kompetenz in Fragen des Glaubens und der Moral“. „Jene Kinder, die getauft wurden, können nicht Institutionen anvertraut werden, die nicht in der Lage sind, ihnen eine christliche Erziehung zu sichern“, heißt es in der Veröffentlichung. An sich ist der Vorgang nicht unbekannt. Taufe ist in der katholischen Lehre ein Sakrament (ähnlich wie Firmung, Heirat, Eucharistie, Krankensalbung, Priesterweihe, Buß-Sakrament), das nicht rückgängig gemacht werden kann, es sei denn, eine gravierende Sünde liege vor. Folgerichtig bemühte sich die Kirche seit jeher, getaufte Kinder in ihrem Schoß zu behalten. Allerdings war der Holocaust ein außergewöhnliches Ereignis, das in den Augen vieler Katholiken dieses Prinzip außer Kraft setzte. So hatte sich beispielsweise in Krakau der damalige Priester und derzeitige Papst Karol Woytila in den Jahren nach 1945 gezielt um die Rückführung jüdischer Kinder in ihre Elternhäuser bemüht. Der neuerliche Konflikt wurde ausgelöst von einem zusätzlichen Satz: dem Vermerk, daß „die Entscheidung der Kongregation des Offiziums vom Heiligen Vater gebilligt wurde“. Aus jüdischer Sicht kommt die Ablehnung der Kirche, die Kinder den Eltern zurückzugeben, einem glattem Kinderraub, also einem schwerwiegenden Verbrechen gleich – das also nach Lage des angeführten Dokumentes von Pius XII. gebilligt worden wäre. Die Speerspitze der Ankläger bilden zwei Personen, die bereits in der Vergangenheit durch ihre beflissene Agitation auffielen. Der eine ist der amerikanische Historiker Daniel Jonah Goldhagen – in Deutschland schon wegen seines im wissenschaftlichen Gewand präsentierten Pamphlets „Hitlers willige Vollstrecker“ bekannt -, dessen späteres Buch „Die katholische Kirche und der Holocaust“ eher als pauschale, überaus subjektive Anklageschrift gegen die römische Kirche denn als wissenschaftliche Arbeit betrachtet werden kann. Der zweite Ankläger ist Abraham Foxman, Direktor der Antidefamation League, der selbst während des Krieges von einer katholischen Frau versteckt wurde. Beide fordern die Einstellung des Verfahrens zur Seligsprechung von Pius XII. und die Öffnung der römischen Geheimarchive. Dabei stößt ein Beitrag Goldhagens (unter dem Titel „Ist das ein Heiliger …?“) in der angesehenen New Yorker Wochenzeitung Forward besonders giftig auf. „Papst Pius XII. hat sich selbst zum Verbrecher gemacht, indem er eine kriminelle Tat anordnete – die illegale und dauerhafte Trennung von Kindern von ihren Eltern, Verwandten oder ihrem gesetzlichen oder geistigen Vormund. So taten es auch Bischöfe, Priester und Nonnen …“ Obwohl Goldhagen auch bei nicht wenigen jüdischen Rabbinern und Historikern eine zweifelhafte wissenschaftliche Reputation besitzt, weiß er einflußreiche Verbündete hinter sich. So hat die US-Organisation Amcha („Koalition für Jüdische Belange“) am 27. Januar sogar mit einem Gerichtsverfahren gegen den Vatikan gedroht, wenn dieser nicht „innerhalb einer Woche“ seine Archive öffne. Die Echtheit des Dokuments wird vehement bestritten Eine Wendung erfährt die Geschichte nun durch den Jesuitenpater Gumpel, Mitglied der Heiligsprechungskongregation, der feststellt, daß das von der Mailänder Zeitung veröffentlichte „Resümee“ erstens nicht das Wappen der Apostolischen Nuntiatur trage, zweitens nicht unterschrieben sei, drittens gar nicht vom Heiligen Offizium komme, viertens sei die Datierung falsch, und obendrein fehle eine ganze Seite. Man habe sich im Archiv auf die Suche nach dem ursprünglichen Brief gemacht und wurde auch fündig: Es sei ein Schreiben des damaligen vatikanischen Außenministers, Erzbischof Tardini, gefunden worden, in dem dieser ausdrücklich die Anweisung gibt, „wenn die Eltern sich melden, sollen die Kinder sofort den Eltern zurückgegeben werden“. Völlig entkräftet dieses Dokument die Vorwürfe dennoch nicht. Denn es ist nicht selten vorgekommen, daß zwei kirchliche Körperschaften gegensätzliche Anweisungen an die ihnen untergeordneten Stellen erlassen haben. Doch dürfte Goldhagen aufgrund seiner nachgewiesenen Subjektivität als der weniger glaubwürdige der beiden Kontrahenten gelten. Ungeachtet der derzeitigen Diskussion traf am 18. Januar eine Delegation von prominenten Rabbinern, Kantoren und jüdischen Führern aus der ganzen Welt in Rom mit Papst Johannes Paul II. zusammen. Zweck des Besuches war, dem Papst zu danken für seine lebenslangen Bemühungen zum Schutz des Judentums. Foto: Papst Johannes Paul II. erhält vom Simon-Wiesenthal-Zentrum einen Chanukah-Leuchter: Innerhalb einer Woche die Archive öffnen