Nach Kanzler Schröders Ankündigung von Neuwahlen scheint eine große Stunde des Parlaments zu schlagen. Und sofort treten die Herren Verfassungsjuristen, allen voran Josef Isensee und Dieter Grimm, auf den Plan, um zu verkünden, daß das Grundgesetz eine mit welchen Tricks auch immer eingefädelte Selbstauflösung des Bundestags gar nicht vorsehe. Der Kanzler habe schließlich das Vertrauen der Mehrheit des Parlaments, was es verbiete, ein Mißtrauen zu simulieren oder zu „türken“. Schröder könnte diesen Positionen gegenüber sich nun eigentlich auf seinen Amtsvorgänger Bethmann-Hollweg berufen und sich einfach über das grundgesetzliche „Stück Papier“ hinwegsetzen. Zumal das konstruktive Mißtrauensvotum wie die Fünf-Prozent-Hürde oder die schwache Stellung des Bundespräsidenten jene Elemente im staatsorganisationsrechtlichen Teil des Grundgesetzes sind, die als „Lehren aus Weimar“, aus der Instabilität der ersten deutschen Republik gelten, die aber die fast sechzig Jahre alte bundesdeutsche Verfassung angesichts stabiler demokratischer Verhältnisse doch eher antiquiert erscheinen lassen. Auch das Grundgesetz ist wie jede andere Norm schließlich nur eine Spielregel, die veränderten Spielkonstellationen anzupassen ist. Klug wäre es von Schröder, geschmeidig danach zu handeln, auf den Bundespräsidenten zu vertrauen, daß formaljuristische Hürden genommen werden können – aber der Kanzler sollte vermeiden, so zu argumentieren. Denn der bundesdeutsche Parlamentarismus hat seit Monaten eine so denkbar schlechte Presse, daß ein „im Auftrag“ des Kanzlers den Weg zu seiner Auflösung frei machender Bundestag in der öffentlichen Achtung weiter sinken würde. Mit einem publizistischen Paukenschlag hat ausgerechnet der oberste Verfassungshüter Hans-Jürgen Papier, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Ende 2003 eine Parlamentsreform an „Haupt und Gliedern“ gefordert. Papier hatte die schleichende Selbstentmachtung des Bundestags, seine „Entparlamentarisierung“ beklagt, weil alle wichtigen Entscheidungen in die Ausschüsse oder – noch undemokratischer – in den Grauzonen der „Interessensvertretung“, in den Hinterzimmern, wo sich Parlamentarier und Lobbyisten treffen, oder im allerengsten Kreis der Fraktions- und Parteiführungen getroffen würden. So wie jetzt die famose „Neuwahl“-Idee, zu der Müntefering und Schröder nicht einmal den grünen Koalitionspartner befragt hatten. Basis der von Papier geäußerten, aber 2003 schon nicht mehr sehr originellen Parteienkritik ist das traditionelle Repräsentationskonzept, das, wie der Kieler Politikwissenschaftler Eberhard Schuett-Wetschky ausführt (Zeitschrift für Politikwissenschaft, 1/2005), impliziere, daß politische Entscheidungen nur im Rahmen der von der Verfassung normierten Organe getroffen werden dürften: im Bundestag und von der Bundesregierung. Schuett-Wetschky kann mit guten Gründen nachweisen, daß dieser mit dem Text des Grundgesetzes leicht zu begründende Anspruch mittlerweile so unrealistisch geworden ist wie manche andere, von ihm freilich nicht thematisierte Verfassungsregelung. Die Parlamentarismuskritik müsse sich daher endlich von „falschen Idealen“ verabschieden und einen realistischen Maßstab zur Beurteilung des Bundestags finden. Realistisch sein heiße, „unabänderliche Sachverhalte akzeptieren“, also die Parteien als „Entscheidungskörper“ anerkennen. Entscheidungen werden nur noch im kleinen Kreis gefällt Das Organ Bundestag könne dann eben nichts anderes beschließen als, was „im kleinen Kreis“ verhandelt und entschieden werde. Dann erscheint es geradezu romantisch, wie Papier darauf zu pochen, der Abgeordnete sei nur seinem Gewissen verantwortlich. Folglich müsse die abwegige Begründung für die Klage über die „Selbstentmachtung“ darauf hinauslaufen, Mehrheitsbildung überhaupt unter Verdacht zu stellen. Hingegen sei es doch der „grundsätzlich legitime Wille einer Mehrheit, die Politik allein in die Hände zu nehmen“. Hier von einem „Gewaltenmonismus“ zu sprechen, wie das der Verfassungsrechtler Detlef Mertens tut, und so, mit starrem Blick auf die Ideologie der „Gewaltenteilung“, den Einfluß der Bundesregierung auf den Bundestag sogar in die Nähe des „Totalitarismus“ zu rücken, erscheint Schuett-Wetschky als groteske idealistische Überforderung der Parteiendemokratie. Aus dieser Perspektive beurteilt, bewiese dann die Schröders Neuwahlwünschen „entgegenkommende“ rot-grüne Parlamentsmehrheit also politischen Realitätssinn in höchster Vollendung.