Für Sonntag, 26. Mai 2002, wurde der Vorstand der Goethe-Gesellschaft, der einzigen Literaturgesellschaft in Deutschland, die in den vier Jahrzehnten zwischen 1949 und 1989 an der Zweistaatlichkeit nicht zerbrochen war, zu einer Sondersitzung nach Weimar einberufen. Es ging, wie zwei Tage später, am 28. Mai, in der Thüringischen Landeszeitung zu lesen stand, um die beiden Vorstandsmitglieder Lothar Ehrlich und Bernd Leistner, die verdächtigt wurden, viele Jahre als „inoffizielle Mitarbeiter“ des Ost-Berliner Ministeriums für Staatssicherheit tätig gewesen zu sein. Beide Professoren wurden aber nun nicht, wie von den 4.000 Mitgliedern der Gesellschaft erwartet worden war, aus dem Vorstand entfernt, sondern ihr Ehrenamt sollte lediglich „ruhen“. Vermutlich deshalb, weil der Vorstand, der 1995 nach einer Regelanfrage schon einmal bei der Gauck-Behörde überprüft worden war, neue Diskussionen um die Ausforschung von Wissenschaftlern, vornehmlich von solchen, die aus Westdeutschland und dem „kapitalistischen Ausland“ zu den Jahrestagungen nach Weimar fuhren, durch sozialistische Geheimagenten fürchtete. Auf diese Überprüfung 1995, die damals angeblich nichts Belastendes ergeben hatte, berief sich jetzt auch Ehrlich, zu DDR-Zeiten Vize-Generaldirektor der 1953 gegründeten Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und jetzt Forschungsdirektor der Stiftung Weimarer Klassik, der die im Jahr 2002 erneut erhobenen Verdächtigungen „empörend“ fand, da er „niemals eine Verpflichtungserklärung unterschrieben“ und auch sonst „niemanden geschadet“ habe, wenn er dienstlich mit Offizieren der Staatssicherheit hätte reden müssen. Seine Kritiker in der Goethe-Gesellschaft sahen das freilich anders und warfen ihm vor, bei der Erfurter Bezirksverwaltung der Staatssicherheit so hoch angesehen gewesen zu sein, daß er nichts hätte unterschreiben müssen. Eine seiner Aufgaben, so der Vorwurf, habe darin bestanden, die westdeutschen Teilnehmer bei den Weimarer Tagungen der Gesellschaft auszuforschen und darüber für seinen Führungsoffizier Berichte anzufertigen. Desgleichen habe er seinen unmittelbaren Vorgesetzten Karl-Heinz Hahn (1921-1990), den Direktor des Goethe-Schiller-Archivs und bis 1986 Präsidenten der Gesellschaft, zwischen 1974 und 1990 im Auftrag des Geheimdienstes observiert. Besonders betroffen zeigte man sich darüber, daß sich ausgerechnet Ehrlich noch 1991 für acht Jahre zum Vizepräsidenten der Gesellschaft wählen ließ und sich außerdem der Aufarbeitung ihrer DDR-Vergangenheit verschrieb. In der Tat hat der Beschuldigte 1998/99 zwei Tagungen zum Thema „Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht“ und „Weimarer Klassik in der Ära Honecker“ veranstaltet und die insgesamt 32 Referate in zwei Bänden im Weimarer Böhlau-Verlag veröffentlicht. Im Ergebnis dieser Vorwürfe gegen zwei Vorstandsmitglieder hat die Stiftung Weimarer Klassik im Jahr 2002 beschlossen, alle ihre Mitarbeiter auf konspirative Kontakte zur Staatssicherheit überprüfen zu lassen. Während Jochen Golz, der heutige Präsident der Goethe-Gesellschaft und Direktor des Goethe-Schiller-Archivs, eine Beruhigung der Situation vor dem 120. Geburtstag der Gesellschaft im Jahre 2005 anstrebt und die Aufarbeitung der mehrere Jahrzehnte anhaltenden Verstrickung von Literaturforschung und Geheimdienst lieber zwei in Berlin, an der Humboldt-Universität und an der Freien Universität, entstehenden Dissertationen zuweisen möchte, ist das Medieninteresse nach wie vor ungebrochen. So erschien am 26. August 2003 im Berliner Tagesspiegel unter dem Titel „IM Mollfels“ ein Artikel, der auf den Beginn einer Weimarer Tagung zum 50. Gründungstag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten am 6. August 1953 datiert war, die von Ehrlich geleitet wurde. Dort wird mitgeteilt, daß sich nach Unterlagen der Erfurter Außenstelle der Gauck-Behörde der am 10. April 1987 als IME „Mollfels“ registrierte Lothar Ehrlich 1987/88 mehrmals mit seinem Führungsoffizier Karl-Heinz Driske in der konspirativen Wohnung „Wilhelmsburg“ in Weimar getroffen habe. Der Betroffene hätte sich aber, so die Zeitung, auf Anfrage über die neuerlichen Vorwürfe „entsetzt und überrascht“ gezeigt, da er sie für erledigt gehalten habe, nachdem er aus der Goethe-Gesellschaft ausgetreten sei. Von der Priorität des Lebens in der sozialistischen Klassik Das alles sind verwirrende Erkenntnisse, Behauptungen und Widerrufe, in die erst vertiefte Akteneinsicht und wissenschaftliche Aufarbeitung sine ira et studio Klarheit bringen können, wenn überhaupt. Zu fragen ist aber, warum der SED-Staat, dem durch eine Fügung der Geschichte 1945 das Land Thüringen mit den Stätten der klassischen deutschen Literatur zugefallen war, über sein Machtinstrument Staatssicherheit ein derart vitales Interesse an der deutschen Klassik zeigte, daß die Weimarer Gedenkstätten im DDR-Volksmund nur noch „VEB Goethe“ genannt wurden. Zunächst einmal muß festgehalten werden, daß der Begriff „Klassik“, mit dem üblicherweise nur das Jahrzehnt des Freundschaftsbundes zwischen Goethe und Schiller (1794-1805) bezeichnet wird, von der DDR-Germanistik auf einen Zeitraum von einem Jahrhundert und mehr, von Gotthold Ephraim Lessings (1729-1781) Frühschriften um 1750 bis zu Heinrich Heines Tod in Paris 1856, ausgedehnt wurde. In der „Deutschen Literaturgeschichte in einem Band“ (Berlin 1966), die der Greifswalder Germanist Hans Jürgen Geerdts mit einem Kollektiv erstellte, wurde der zur „Klassik“ erklärte Zeitraum noch weiter ausgedehnt und ein Abschnitt in dem Wälzer dementsprechend „Die deutsche Nationalliteratur in der Epoche ihrer klassischen Ausprägung (1700-1848)“ betitelt. Warum so vereinnahmend verfahren wurde, das erklärte Helmut Holtzhauer, Weimarer Gedenkstättendirektor bis 1973, im August 1968 in der Neuen Zürcher Zeitung so: „Wir nennen den gesamten Zeitraum von Lessing bis Heine ‚Epoche der klassischen deutschen Literatur‘, weil wir ihn als Einheit betrachten, innerhalb deren für Kunst und Literatur (…) die Priorität des Lebens vor der Idee das Kennzeichnende ist. Wie abwegig muß es sein (…), wenn die Einheit der Epoche in eine Aufeinanderfolge von gegensätzlichen Erscheinungen wie Aufklärung, Sturm und Drang usw. aufgelöst wird“. Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, warum die DDR-Germanistik, hinter deren Konzeption selbstredend das 1954 gegründete Kulturministerium Johannes R. Bechers (1891-1958) und seiner Nachfolger sowie die staatliche Wissenschaftsplanung standen, den Klassikbegriff so weit ausdehnte. Jürgen Scharfschwerdt hat in seinem Buch „Literatur und Literaturwissenschaft in der DDR“ (1982) dazu einen Beitrag geliefert. Mit diesem stark erweiterten Begriff, der auf ein ganzes Jahrhundert bezogen war, konnte man alle Richtungen und Strömungen deutscher Literaturgeschichte, Klassik und Gegenklassik sozusagen, erfassen und sie zur Vorform, zum Vorbild und zur Vorgeschichte einer „sozialistischen Klassik“ erklären, die freilich erst noch zu schaffen war. Auch deshalb haben die emsigen DDR-Germanisten überall in der deutschen Literaturgeschichte des 18./19. Jahrhunderts nach vergessenen und verschollenen Autoren gesucht, die angeblich oder tatsächlich von der „bürgerlichen“ Literaturgeschichtsschreibung vernachlässigt worden waren. Gefunden haben sie beispielsweise den Aufklärer Christian Daniel Schubart (1739-1791), den „linken“ Klassiker Georg Forster (1754-1794) und den von Karl Marx und Friedrich Engels verehrten Georg Weerth (1822-1856), alle drei Vertreter „demokratischer Traditionen“ in Deutschland, die vom Bürgertum des imperialistischen Kaiserreichs „verraten“ worden waren und deshalb auch in seinem Literaturkanon nicht vorkamen. Die Leipziger Germanistin Hedwig Voegt hat in ihrer Dissertation über „Die deutsche jakobinische Literatur und Publizistik 1789 -1800“ (Berlin 1955) schließlich eine weithin verschüttete Literaturströmung neben der deutschen Klassik ausgegraben, die sie mit Autorennamen wie Wilhelm Ludwig Wekhrlin (1739-1792), Gottfried August Bürger (1747-1794), Johann Heinrich Voß (1751-1826), Adolf von Knigge (1752-1831), Andreas Georg Friedrich von Rebmann (1768-1824) und den Mainzer Jakobinern um Georg Forster auswies. Diese Jakobinerforschung zeitigte nicht zufällig im Zeichen von „1968“ schnell westdeutsche Entsprechungen, die sich forschungspolitisch keineswegs marginal ausnehmen. Was in den Jahrzehnten nach Voegts Dissertation unternommen wurde, war eine marxistische Umdeutung des „klassischen Erbes“, das somit erzieherische Aufgaben wahrzunehmen hatte bei der Bildung einer „Literaturgesellschaft“ und einer „sozialistischen Nation“, wenn auch nur in einem Teilstaat. Fremde Einflüsse, Gegenreden, Widerworte, die störend auf diese „Erziehung“ hätten einwirken können, waren da höchst unerwünscht. Als Einfallstor für die „feindliche Ideologie“ wurden deshalb auch die alle zwei Jahre stattfindenden Tagungen der Goethe-Gesellschaft in Weimar angesehen, weil dort auch Goethe-Interpreten aus dem „nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet“ auftraten – vornehmlich also aus der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin, das gesondert gezählt wurde – die die DDR-Sicht auf das „klassische Erbe“ nicht teilten, sondern heftig widersprachen. Man wollte nicht, daß dieser „heilige Acker“ der Klassik von, um im Bild zu bleiben, „kapitalistischen Wildsäuen“ durchwühlt und zertrampelt wurde! Heiligen Acker vor den Westsäuen schützen Um das zu verhindern, wurde als letzte Instanz die Staatssicherheit eingeschaltet, die darüber wachte, wer wo wann einreiste und warum, wer überhaupt einreisen durfte und wer nicht. Wer mit wem auf den Tagungen ins Gespräch kam und worüber gesprochen wurde. Wer an wessen Seite ging bei den Ausflügen nach Oßmannstedt oder Stützerbach oder zu den Dornburger Schlössern. In Erfurt, wo in einem Archiv der Gauck-Behörde die Hinterlassenschaft der einstigen Stasi-Bezirksverwaltung untergebracht ist, kann man die Details dieser Bespitzelungspraxis heute studieren. Zu den ergiebigsten Fundstücken zählen jene Observierungsberichte der Stasi-Mitarbeiterin mit dem milieugerechten Decknamen „Caroline Schlegel“, die unter anderem auf „Mephisto“, den Gedenkstätten-Chef Hahn, angesetzt war. Diese „inoffizielle Mitarbeiterin mit Feindberührung“, deren Klarname Eingeweihten heute bekannt ist, begleitete Hahn selbst auf Westtagungen der Goethe-Gesellschaft. Für die Erfurter Bezirksverwaltung war diese Frau ein ausgeprochener Glücksfall. Offenbar gab es auf einer Harzburger Tagung 1987 kein Gespräch, das Hahn und sein westdeutscher Vizepräsident Jörn Göres führten, welches „Carolines“ Ohr entging. Allein 15 Seiten füllen ihre Beobachtungen, Material, das es Mielkes Mannen erheblich erleichterte, auf die Politik der Gesellschaft Einfluß zu nehmen. Das Thema „Goethe-Gesellschaft und Staatssicherheit“ ist noch keineswegs ausgeschöpft! Was hier vorliegt, ist ein erster, ein dürftiger Überblick. Noch nicht ausgewertet sind Dutzende von Überwachungsprotokollen, die von „Caroline Schlegel“ und „Ruth Babbel“ aus dem innersten Kreis der Weimarer Geschäftsstelle stammen. Nicht eingesehen sind bisher die Unterlagen der SED-Bezirksleitung Erfurt, hier besonders der Kulturabteilung, des „Kulturbundes“ in Erfurt, dem die Goethe-Gesellschaft unterstand, und der Abteilung Kultur im ZK der SED, die zwischen 1976 und 1989 von Ursula Ragwitz geleitet wurde. Nicht eingesehen sind Zeitungen der Bezirke Erfurt und Gera, Das Volk und Die Volkswacht, die laufend über die Aktivitäten der Goethe-Gesellschaft informierten. Es wird Jahre dauern, bis ein gesicherter Überblick zum Thema „deutsche Klassik und sozialistischer Staat“ vorliegt. Foto: Klassikfreunde beim Cocktail-Empfang, Jahrestagung der Goethe-Gesellschaft, Kassel 1978: Von links nach rechts: Jörn Göres (Goethe-Museum Düsseldorf), Oberbürgermeister Hans Eichel, Detlef Lüders (Goethe-Museum Frankfurt/M.), Karl-Heinz Hahn (Präsident der Goethe-Gesellschaft Weimar)