Welcher Wert kommt einer Diktatur zu, wenn nur durch ihre Aufrechterhaltung eine andere, „schlimmere“ verhindert werden kann? Verdienen Diktatoren die Ehrung von Demokraten, solange sie für den Bestand eines Staatswesens sorgten, auch wenn sich dieses nur in geringem Maße der Gunst der Zeitgenossen erfreute? Diese auf den ersten Blick merkwürdig anmutenden Fragen stehen im Mittelpunkt einer aktuellen zeithistorischen Debatte in Österreich. Es geht um die Bewertung jener Jahre zwischen 1933 und 1938, der Regierungszeit von Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg, die linke Historiker gern als Zeit des „Austrofaschismus“ bezeichnen, während ihr konservatives Widerlager lieber die Begrifflichkeit „autoritär christlich-sozialer Ständestaat“ pflegt. Auslöser der aktuellen Debatte ist der 70. Jahrestag des sozialdemokratischen Februaraufstandes von 1934, welcher der damaligen Regierungskoalition aus Christlichsozialen, Heimwehr und Landbund den letzten Anlaß zur formalen Ausschaltung aller oppositionellen Kräfte und zur Errichtung einer diktatorischen Herrschaft bot. Diese Dreierkoalition war im Mai 1932 unter der Führung von Kanzler Dollfuß gebildet worden. Ihr stand eine breite parlamentarische Opposition aus Sozialdemokraten und Nationalsozialisten gegenüber. „Seit in Österreich erstmals seit den fatalen dreißiger Jahren eine Mitte-Rechts-Koalition regiert“, sieht der Wiener Profil (06/2004) einen akuten Grund, diesen Jahrestag zu beleuchten. Besonders pikant ist dabei, wie man des Gegners der Nationalsozialisten gedenkt, ohne die autoritären Konservativen zu verklären. Für die SPÖ ist die Front klar aufgestellt: Ein Gedenken an den am 25. Juli 1934 von nationalsozialistischen Putschisten ermordeten Dollfuß lehnen die Sozialisten ab. Daß dieser von einem gemeinsamen Feind umgebracht wurde, spreche ihn nicht frei. Der SPÖ-Abgeordnete Günter Kräuter bezeichnete 2002 Dollfuß sogar als „schmierigen Faschisten“ und reagierte damit auf die lobenden Worte des ÖVP-Nationalratspräsidenten Andreas Khol, der Dollfuß einen „Märtyrer und österreichischen Patrioten“ nannte. Bereits bis zur Jahreswende 1932/33 zeichnete sich unter der Regierung Dollfuß ein Kurs zu einer Herrschaft mit deutlich autoritären Elementen ab. Was jedoch zunächst noch in den Bahnen demokratischer Gepflogenheit verlief, trug nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland ein wesentlich anderes Gesicht. Den Rücktritt aller drei Präsidenten des Nationalrats am 4. März 1933 aufgrund eines Waffenschieberskandals nutzte Dollfuß zur Zerschlagung des Parlaments und zur Auflösung des Verfassungsgerichtshofs sowie zu gravierenden Eingriffen in das Presserecht. Wenige Wochen später werden die NSDAP und sämtliche ihr nahestehenden Organisationen verboten, ebenso aber auch der Republikanische Schutzbund, die paramilitärische Organisation der Sozialdemokraten. Bürgerkriegsartige Zustände mit folgenden Todesstrafen Eine Durchsuchung der Heimwehr in einem Gewerkschaftsheim in Linz und die Verhaftungen mehrerer Schutzbündler lösen am 12. Februar 1934 einen Aufstand der sozialdemokratischen Arbeiterschaft aus, der bürgerkriegsähnliche Züge trägt. Zentren des Kampfes, der von beiden Seiten mit äußerster Verbitterung geführt wird, sind neben Linz Wien, Steyr, St. Pölten, Bruck an der Mur. Zwischen dem 12. und 15. Februar müssen die aufständischen Sozialdemokraten und Schutzbündler fast 200 Tote und mehr als 300 Verwundete beklagen; die staatliche Exekutive und die Heimwehr 128 Tote und 409 Verwundete. Die Regierung setzt auf Abschreckung und verurteilt mehrere Führer des Aufstands zum Tode; viele erhalten langjährige Haftstrafen. Die sozialdemokratische Partei, die freien Gewerkschaften und andere Arbeiterorganisationen werden verboten, die von Sozialdemokraten geleiteten Gemeinde- und Landesvertretungen aufgelöst. Die Führer der Partei Julius Deutsch und Otto Bauer fliehen ins Ausland. Im Mai 1934 wird die sogenannte „Maiverfassung“ ausgerufen, durch die die Republik in einen „christlichen Ständestaat“ umgewandelt wird. Nur wenige Monate nach dem sozialdemokratischen Aufstand unternehmen österreichische Nationalsozialisten einen Putschversuch. Am 25. Juli besetzen sie das Bundeskanzleramt und nehmen die Mehrzahl der Regierungsmitglieder gefangen. Als Dollfuß fliehen will, verwundet ihn eine Kugel schwer. Er stirbt wenige Stunden später. Der Putsch brach jedoch bald zusammen, da sich die Heimwehr auf die Seite ihres Regierungspartners stellt. Dollfuß‘ Nachfolger im Kanzleramt, Kurt Schuschnigg, setzt den diktatorischen, jedoch anti-nationalsozialistischen Kurs seines Vorgängers fort. Angesichts der Ermordung von Dollfuß, dem gemeinsamen Schicksalsweg von Christlichsozialen und Sozialdemokraten in den Jahren zwischen 1938 und 1945 fiel in der Nachkriegszeit eine klare Verurteilung der autoritären Herrschaft zwischen 1933 und 1938 schwer. Ein wesentlicher Grund, warum die Aufarbeitung dieser Zeit bis in die sechziger Jahre keinen hohen Stellenwert besaß, war staatspolitischer Natur. Die von der Sowjetunion auf Österreich übertragene Vorstellung, das „erste Opfers des Nationalsozialismus“ gewesen zu sein, wurde nach 1945 zur Staatsdoktrin erhoben. Dies eröffnete nicht nur einen bequemen Weg, Entschädigungsforderungen wegen eigener Verstrickungen in den NS-Staat zu vermeiden, sondern war ebenso für den raschen Abschluß eines Friedensvertrages relevant. Dazu war freilich ein möglichst ausführlicher Nachweis des Widerstandes gegenüber der Hitler-Diktatur notwendig. Zu diesem Zweck konnte und wollte man nicht auf die Jahre des „Abwehrkampfes“ verzichten. Die Urteile von damals sind bis heute rechtskräftig Später verhinderte die lange Phase der großen Koalitionen eine intensivere Auseinandersetzung. Die Volkspartei, die sich zu ihren christlich-sozialen Traditionen vielfach im positiven Sinne bekannte, und die Sozialdemokraten, in deren Reihen zwar das Bild vom „Arbeitermörder“ Dollfuß weiterhin präsent blieb, wollten den faktischen Zwang zur Zusammenarbeit nicht durch lästige historische Debatten gefährden. Gerade linke Zeithistoriker verweisen daher nicht ohne Grund auf eine sogenannte „Koalitionsgeschichtsschreibung“, die sich in dieser Ära durchgesetzt habe. Bezeichnenderweise hob jedoch selbst Bruno Kreisky während seiner Kanzlerschaft die politischen Urteile gegen Sozialdemokraten der Jahre 1933 bis 1938 nicht auf. Sie haben bis heute Rechtskraft. Der gegenwärtige Streit zwischen SPÖ und ÖVP um die Bewertung der „Ständestaat“-Ära trägt daher den Charakter eines Sturmes im Wasserglas. Zwar scheinen erstmals seit 1945 die Gräben zwischen diesen Parteien so groß, daß ein Rückfall in die alte Harmonie der „großen Koalitionen“ nahezu ausgeschlossen erscheint. Vor großen Illusionen ist indes zu warnen: In den nächsten Monaten finden mehrere Landtagswahlen statt. Wie es danach im Falle von „großen Koalitionen“ mit dem parteilichen Geschichtsbewußtsein aussieht, bleibt abzuwarten. Foto: Dollfuß neben Mussolini auf dem Treffen faschistischer Führer in Rom 1933: Österreichischer Patriot