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Marc Jongen, ESN Fraktion
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Inmitten allgemeiner Verwirrung

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Hinter manchem großen Mann steht eine starke Frau. Die gilt dann als seine „bessere Hälfte“. In der Biographie des Diplomaten Ulrich von Hassell heißt diese Frau Ilse von Tirpitz. Die Tochter des Großadmirals – „des Mannes der ungefähr als der Mächtigste in Deutschland galt“-, der „größte Schatz“ ihres Vaters, das „gefeiertste Mädchen Berlins“, Liebling des Kaisers, der sie treffend den „kleinen Kreuzer“ genannt habe: Dieses Fabelwesen führte der mittellose, im Auswärtigen Amt tätige Assessor von Hassell im Januar 1911 „heim“. Die kurze Geschichte seiner Werbung um Ilse von Tirpitz erzählte Ulrich von Hassell in seinen erst 1994 veröffentlichten Lebenserinnerungen, die er niederschrieb, als er im August 1944 auf seine Verhandlung vor dem Volksgerichtshof wartete. Die fand am 8. September 1944 statt und endete erwartungsgemäß – wegen zeitweise maßgeblicher Beteiligung an jenen Bestrebungen, die schließlich im Attentat des 20. Juli mündeten – mit dem am gleichen Tage in Plötzensee vollstreckten Todesurteil. Der Schwiegersohn des Chefplaners deutscher Weltgeltung starb als Hochverräter, auf den Tag genau dreißig Jahre nach dem fast tödlichen Herzschuß, der den jungen kriegsfreiwilligen Offizier am 8. September 1914 während der Marneschlacht traf. 1914 und 1944: Hassells persönliche Schicksalsdaten markieren Anfang und Ende des deutschen Großmachttraums. Von Hassell hat diesen Traum bis zuletzt geträumt. Als Soldat war er bereit, für ihn sein Leben zu opfern. Als Diplomat auf wichtigen Posten, zuletzt als Botschafter des Reiches in Rom, setzte er sich nach 1918 dafür ein, sein Vaterland aus den Fesseln des Versailler Diktats zu befreien, um die Rückkehr Deutschlands in den Kreis der Großmächte zu ermöglichen. Die Kanzlerschaft Adolf Hitlers hat der Deutschnationale von Hassell wie das Gros der „alten Eliten“ begrüßt, weil er glaubte, der schon unter Brüning eingeschlagene revisionistische Kurs werde nun, ohne die „Bremsklötze“ des Weimarer Parteienstaates, energischer verfolgt. Hassells römische Aktivitäten trugen viel dazu bei, diese revisionistische, offenbar ganz Weimarer Kontinuitäten verpflichtete Außenpolitik Hitlers abzusichern. Allerdings dokumentieren Lageberichte und Denkschriften, die der Botschafter aus Rom nach Berlin schickte, seit 1936 erste Konfliktfelder, die einen prinzipiellen Dissens zwischen dem „Bismarckianer“ von Hassell und dem „Lebensraumplaner“ Hitler erkennen lassen. Hassells Lieblingsprojekt war der „Viererpakt“: Mit Italiens Hilfe solle das Reich die französische Position in Südosteuropa erschüttern, dann Paris zwingen, seinen Warschauer Verbündeten preiszugeben, um auf möglichst friedlichem Wege eine Lösung der „Korridorfrage“ zu erreichen und endlich die so „eingedämmten“ Franzosen zusammen mit den Briten einzuladen, an der Bildung „Kerneuropas“ teilzunehmen. Bei Mussolini, zu dem der Botschafter ein persönlich ausgezeichnetes Verhältnis hatte, stieß dieses Projekt auf ein positives Echo. Jedoch verfolgte mit Hitlers Zustimmung Joachim von Ribbentrop, sein gegen das Auswärtige Amt agierender außenpolitischer Berater, eine Strategie, die Hassells Konzeptionen bald zu Makulatur machte und Anfang 1938 auch zu seiner Entlassung führte. Ohne den Botschafter einzubeziehen, fädelte Ribbentrop, gestützt auf Mussolinis Schwiegersohn Graf Ciano, 1935/36 die deutsch-italienische „Achse“ ein, ein festes Bündnis, das, erweitert um Japan, klar gegen London gerichtet war. Da die Achse auch die Feindschaft der Sowjetunion provozieren mußte und die Briten im Ernstfall in den USA eine Stütze finden würden, riskierten Hitler und Ribbentrop einen zweiten Weltkonflikt. Schon vor seiner Ablösung hatte Hassell sich also vom Mitgestalter zum Opponenten Hitlerscher Außenpolitik gewandelt. In der „Achse“ als Kontrastprogramm zum „Viererpakt“ spiegelt sich Hitlers Alternative „Weltpolitik oder Untergang“, die Hassell aus seiner tief im 19. Jahrhundert verwurzelten Denkweise wohl nicht wirklich verstand. Für realistisch hielt er allein sein bismarcksches Credo, eine europäisch fundierte, auf „Weltgeltung“ bedachte deutsche Großmacht könne diese Stellung im Einverständnis mit den Westmächten erreichen – nicht zuletzt deshalb, weil allein ein starkes Reich ihre kapitalistischen Systeme vor dem Bolschewismus schützen konnte. Nur in einem Essay über Tirpitz als „Preußen und Weltpolitiker“, publiziert im April 1939, als Ilse von Hassell das neben seinem Schwesterschiff Bismarck größte deutsche Schlachtschiff in Hitlers Gegenwart auf den Namen ihres Vaters taufte, blitzte bei dem zur Disposition gestellten Botschafter die Einsicht auf, daß dieses Einverständnis aus London und Washington keiner deutschen Regierung erteilt werden würde. Kein Zeichen einer Zusage für einen Sonderfrieden erhalten Nicht nur Hassell hat dann bei seinen Auslandssondierungen bitter zur Kenntnis nehmen müssen, daß die Westmächte nicht Krieg gegen Hitler, sondern gegen Deutschland und zwar speziell das preußische, „junkerliche“ Deutschland führten, das der Tirpitz-Schwiegersohn so formvollendet repräsentierte. Die „verlassenen Verschwörer“ (Klemens von Klemperer), die „Honoratioren-Gruppe“ um Hassell, Ludwig Beck, Karl Goerdeler und Johannes Popitz sowenig wie die jüngeren Hitler-Gegner des Kreisauer Kreises mit anglophilen Exponenten wie Moltke oder Trott zu Solz, erhielten darum auch nicht einmal die Andeutung einer Zusage für den „Sonderfrieden“ nach gelungenem Staatsstreich. Zudem war Hassells außenpolitisches Konzept nicht von seinem protestantischen Weltbild zu lösen. Wie zu Bismarcks Zeit, die ausklang in der wilhelminischen Welt der Hofbälle und Paradediners, wo das Ehepaar Hassell zueinander fand, sollten nach dem Wunschbild des Diplomaten immer noch „christliche Staatsmänner“ Politik auf der Basis humanistischer Werte gestalten. Dieses Wertefundament lag jedoch seit 1914/18 in Trümmern. Churchill, Roosevelt, Hitler und Stalin waren dezidiert anti-christliche Staatsmänner, die in einer entchristlichten Welt Politik trieben. Churchill und Roosevelt hatten während des Ersten Weltkrieges demonstriert, daß sie sich an das Völkerrecht nicht gebunden fühlten, und Stalin stand ohnehin im Ruf eines Massenmörders, so daß politisch erfolgreich vielleicht nur sein konnte, wer wie Hitler skrupellos genug war, ohne moralischen „Ballast“ ins Haifischbecken zu steigen. Verachtung für vordringende „Figuren“ der NS-Bewegung Im Urteil Hassells, dem die US-Amerikaner als „materialistische Banausen“ zuwider waren und der die Bolschewisten für „Halunken“ hielt, war der Preis, hier mitschwimmen zu dürfen, aber entschieden zu hoch. Nicht zufällig wimmelt es in Hassells Tagebüchern von physiognomischen Wertungen, überall bemerkt er das Vordringen von „Kommisgesichtern“, „ungebildeten“ Angestelltentypen ohne Manieren, Figuren, die aus der Flasche trinken und die nie Gavottestunden besucht hatten: Parteisubjekte, auf die Ilse und Ulrich von Hassell mit ostentativer Verachtung reagierten, die aber die Oberhand gewannen inmitten „allgemeiner Verwilderung“. Für die verschwindend geringe Chance eines deutschen Erfolges im „Kampf der Kontinente“ (Sven Hedin) habe das NS-Regime die innere Amerikanisierung und Bolschewisierung mit einer Radikalität betrieben, die von der kulturellen Identität des deutschen Volkes, der überlieferten geistigen Substanz nichts mehr übriggelassen habe. Nicht ohne Ergriffenheit liest man daher, was Hassell zehn Tage vor dem 20. Juli 1944 bei einem Besuch in Friedrichsruh notiert, wo Haus und Mausoleum die Erinnerung an den Reichsgründer Bismarck wachhielten: „Kaum zu ertragen, ich war dauernd an Tränen beim Gedanken an das zerstörte Werk.“ Foto: Ulrich von Hassell mit seiner Frau Ilse und dem Botschafterkollegen Dino Alfieri (M.) während seiner Zeit in Italien Mitte der dreißiger Jahre: Endlich an der Bildung Kerneuropas teilnehmen Malve von Hassell (Hrsg.): Ulrich von Hassell: Der Kreis schließt sich. Aufzeichnungen in der Haft 1944. Propyläen Verlag, Berlin 1994, 375 Seiten, nicht mehr lieferbar Klaus Peter Reiß, Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen (Hrsg.): Die Hassell-Tagebücher 1938-1944. Ulrich von Hassell: Aufzeichnungen vom Andern Deutschland. Siedler Verlag, Berlin 1988, 689 Seiten, nicht mehr lieferbar Ulrich Schlie (Hrsg.): Ulrich von Hassell. Römische Tagebücher und Briefe 1932-1938. Herbig, München 2004 (voraussichtlich Anfang Juni), 320 Seiten, ca. 24,90 Euro Gregor Schöllgen: Ulrich von Hassell 1881-1944. Ein Konservativer in der Opposition. C.H.Beck, München 1990, 2004 als Taschenbuch, 278 Seiten, Abbildungen, 12,90 Euro In dieser Reihe wurden bisher Eduard Wagner und Karl-Friedrich Goerdeler porträtiert.

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