Wolfgang Justin Mommsen ist am Mittwoch vergangener Woche während eines Badeurlaubs an einem Herzinfarkt verstorben. Der 73 Jahre alt gewordene Historiker repräsentierte den Typus des sozialliberalen Großordinarius nach 1968, im nämlichen Jahr wurde er Professor in Düsseldorf. Er war ein Urenkel des ersten deutschen Literaturnobelpreisträgers Theodor Mommsen, Sohn des Marburger Historikers Wilhelm Mommsen, der 1945 von den Amerikanern von seinem Lehrstuhl vertrieben wurde und heutigen Schülern und Studenten als Herausgeber der „Deutschen Parteiprogramme“ noch präsent ist, und Schüler des konservativen Kölner Oberhauptes einer weitverzweigten, vornehmlich linksliberalen Historikerschar Theodor Schieder. Kaum jemand besitzt eine derart stattliche Schülerschar Seine Dissertation über „Max Weber und die deutsche Politik“ von 1959 gehört bis heute zur Weber-Standardliteratur, in den folgenden zahlreichen Publikationen deckte er in familiärer Arbeitsteilung mit seinem Zwillingsbruder Hans, der für Weimar und das Dritte Reich zuständig ist, die Zeit vom Vormärz bis zum Ende des Kaiserreiches ab. Anders als seine darin vollkommen unbeleckten sozialhistorischen Freunde widmete sich Wolfgang zunehmend auch der Kultur- und Ideengeschichte, zu der er als Autor oder Herausgeber wichtige Bände beisteuerte („Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde“, „Krieg und Kultur“, „Max Weber und seine Zeitgenossen“). An das Werk seines Freundes, Kollegen und Widersachers Thomas Nipperdey reichten diese Bände freilich nicht heran. Wichtig waren auch Wolfgang Mommsens verfassungshistorische Beiträge, in welchen er das System des Kaiserreiches in Abgrenzung von Ernst Rudolf Huber und in Anlehnung an Carl Schmitt als dilatorischen Herrschaftskompromiß deutete. In der Fischer-Kontroverse verwarf er das Konstrukt eines seit dem „Kriegsrat“ vom Dezember 1912 geplanten Angriffskrieges des Deutschen Reiches, was ihm heftige Kritik von Fischers Jüngern einbrachte, hielt aber an der Hauptverantwortlichkeit des Kaiserreiches und seiner Eliten fest. Mit seiner großen Gesamtdarstellung des Kaiserreiches geriet er in den Windschatten der mehr beachteten Werke von Thomas Nipperdey oder Hans-Ulrich Wehler, zwischen deren Standpunkten er sich mittig positionierte. Großordinarius wird man freilich nicht durch seine Werke, die Mommsen übrigens meist einer Zweit-, Dritt- oder Viertverwertung zuführen konnte, sondern durch seine institutionelle Stellung. Mommsen war hier die Spinne in einem weitverzweigten Netz, was äußerlich in seinen Positionen als Direktor des Deutschen Historischen Instituts in London (1977-1985), Vorsitzender des deutschen Historikerverbandes (1988-1992) und Mitherausgeber der einflußreichen Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft sowie der Max-Weber-Gesamtausgabe zum Ausdruck kommt. Kaum ein Historiker verfügt über ein solch stattliche Schülerschar, die Mommsen stets unterzubringen wußte: Gerd Krumeich in Düsseldorf, Stig Förster in Bern, Christoph Cornelißen in Kiel, Gangolf Hübinger in Frankfurt/Oder, Dirk Blasius in Essen, Dittmer Dahlmann in Bonn und Gerhard Hirschfeld in Stuttgart (Bibliothek für Zeitgeschichte). An einem solchen Netzwerk können nur naivste Idealisten Anstoß nehmen, so funktioniert eben auch die Wissenschaft. Die Konservativen sollten nicht darüber, sondern über ihre Unfähigkeit klagen, etwas Vergleichbares auf die Beine zu stellen. Stören kann man sich schon eher daran, daß Mommsen die Geschichtswissenschaft als politisches Projekt inszenierte. Er und andere Schieder- und Conze-Schüler kämpften ein Leben lang gegen ihre Überväter und deren kleindeutsch-preußisch orientierte Kollegen an. Im Laufe der Zeit wurde dies zu einem Kampf gegen Windmühlen, denn die Widersacher starben zusehends aus und ließen die linksliberalen Streiter allein. Der politische Kampf ging zu Lasten der Wissenschaftlichkeit. So fiel Mommsen zu Niall Fergusons revisionistischen Thesen zum Ersten Weltkrieg nichts anderes ein, als in der Zeit (wo sonst?) vor möglichen apologetischen Folgerungen zu warnen, eine Sorge, die seinen Bruder mittlerweile vollständig benebelt hat. Die Bewertung von Forschungsergebnissen nach deren politischer Opportunität – war es nicht das, was man den Altvorderen und ihrem Engagement im Dritten Reich vorwarf? Mommsen würde das vielleicht noch nicht einmal leugnen, allerdings sollte das Engagement doch jetzt im Dienste der liberalen Demokratie geschehen. Wissenschaftlich gesehen ist das freilich unerheblich, wer sich von der regulativen Idee der Wahrheit – heute spricht man lieber von intersubjektiver Nachprüfbarkeit – entfernt, landet im Politunterricht, der dann aber auch besser von entsprechenden Kommissaren übernommen werden sollte. Auf dem legendären Frankfurter Historikertag von 1998 verteidigte Mommsen inmitten einer regelrechten Pogromstimmung gegen die Vätergeneration der „Nazi-Historiker“ tapfer die persönliche Integrität seines Lehrers Theodor Schieder, was ihm zur Ehre gereichte, allerdings auch den öffentlichen Rüffel seines Bruders Hans und der jungen Saalmeute einbrachte. Man kann nicht umhin, hier an den Zauberlehrling und seine Besen zu denken. Foto: Wolfgang Mommsen (1930-2004): Die Spinne in einem weitverzweigten Netz der historischen Forschung
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