Zum unverzichtbaren Bildungsgut von Harald Schmidt und Dietrich Schwanitz gehört auch der Satz des Philosophen Immanuel Kant: „Zwei Dinge erfüllen mich stets wieder mit Ehrfurcht, der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Wie in JF 11/03 gemeldet, hat die Raumsonde Pioneer 10 soeben die Reichweite ihrer Empfänger verlassen. Zuvor hatte das unbemannte Raumschiff noch Nahaufnahmen vom Jupiter geschickt und fliegt inzwischen auf den Aldebaran zu, der in zwei Millionen Jahren erreichbar wäre. Stimmt Sie das ehrfürchtig? Eher lösen solche Dimensionen doch eine Ratlosigkeit aus – wenn nicht ein hilfloses Lachen. Nun hat der „bestirnte Himmel über uns“ ein vollends absurdes Pendant gefunden, die winzige Teilchenwelt und ihre eifrige Erkundung. Aufnahmen dieser planetenartig kreisenden Energiekrümel liefert uns das Rastertunnelmikroskop. Die Grenze zwischen Leben und bloßer Materie verschwimmt allerdings in diesem Bereich. In der Nano(griech. Zwerg-)wissenschaft wirken Physiker, Chemiker und Biologen so eng zusammen wie nirgends sonst. Der Stoff ist überall nach den gleichen Prinzipien aufgebaut, ein Hinweis, daß alles aus einem Ursprung stammt. Darüber kann man in religiöses Nachsinnen verfallen, man kann sich aber auch diese Tatsache zunutze machen. Viren zum Beispiel sind bisher nur an Hand der entsprechenden Antikörperbildung zu erkennen. Ein Nano-Verfahren soll erstmals die Viren selbst nachweisen können. Schon sind Nanosensoren in die Blutbahnen geschleust worden, um dort medizinische Informationen schon im kleinsten Ansatz abzulesen. Filtermembrane, die nach dem Prinzip der Zellwand funktionieren, bringen gezielt Bakterien an die erwünschten Orte im Körper. Noch lukrativer könnte der Einsatz in der Informatik sein. Nach ihrer bisherigen Funktionsweise kommt die Computerelektronik im Hinblick auf Schnelligkeit und damit Leistungsfähigkeit irgendwann an eine physikalische Grenze, Quantenforscher haben sie bereits errechnet. Wer dann noch weiter will – und weiter wollen wir immer -, muß die Informationstechnik auf eine ganz neue Grundlage stellen. Nanomaschinchen haben nicht nur den Vorteil, klein zu sein – ein Nanometer = ein Millionstel Millimeter -, sondern das Bauen mit einzelnen Molekülen wie mit Legosteinchen verleiht dem Schöpfer eine unbegrenzte Macht. Nichts Vorgegebenes hat er mehr zu akzeptieren außer dem Wesen der Materie selbst. Nicht zuletzt für die Genforschung eröffnen sich nanotechnisch nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Lernen wir dabei Ehrfurcht? Der Junggeselle Kant sitzt bei Sternenlicht am Fenster und zieht eine Stecknadel aus dem Kissen. Auf deren Kopf tummelt sich im Nanomaßstab eine Stadt von der zehnfachen Größe Königsbergs. Da wird der Platz für das moralische Gesetz langsam knapp.