Die COVID-19 Neuinfektionszahlen gehen global zurück, besonders deutlich in Westeuropa. Bund und Länder haben nun weitere Lockerungen in der Corona-Krise sowie einen Rückkehr-Mechanismus zum Lockdown vereinbart. Wenn in Landkreisen oder kreisfreien Städten „mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb der letzten sieben Tage“ auftreten, werden notfalls wieder Verschärfungen beschlossen. Bei einem limitierten Ausbruch in einem Pflegeheim sollen die Beschränkungen nur für diese Einrichtung gelten. Einen Immunitätsnachweis für das Coronavirus wird es vorerst nicht geben.
Nach Einschätzung des Tourismusbeauftragten der Bundesregierung können Urlauber im Sommer doch unter Umständen auf die Balearen oder die griechischen Inseln reisen. „Wenn es dort kaum noch Neuinfektionen gibt und die medizinische Versorgung funktioniert, könnte man auch über einen Sommerurlaub dort nachdenken“, sagte Staatssekretär Thomas Bareiß (CDU) dem Tagesspiegel.
Die Lockerungen sind umstritten. SPD Gesundheitsexperte Karl Lauterbach beispielsweise, der vor kurzen noch toxische Staubsaugerbeutel für die Anfertigung von Schutzmasken empfahl, hält die Durchführung von regulären Schul-Unterricht für mindestens ein Jahr für unmöglich. Der im öffentlich-rechtlichen Rundfunk medial dauer-präsente SPD-Gesundheitsexperte kennt offenbar die Daten aus Island nicht, wo mittels einer Corona-App herausgefunden wurde, daß von Kindern keine signifikante Übertragung des Virus ausging. In Island gibt es schon wieder einen normalen Schulbetrieb ohne Abstandsregeln.
Ex-Verfassungsrichter prognostiziert Klagewelle
Ein möglicher Grund für die maßgeblich von den Bundesländern verantworteten, überraschend schnellen Lockerungen ist das Wegbrechen des Neugeschäfts der deutschen Industrie in einem nie dagewesenen Tempo mit 15,6 Prozent weniger Aufträgen als im Vormonat, und einem Rekord-Minus von 51,4 Punkten im Ifo Index, dem stärksten Rückgang seit Beginn der Statistik 1991. Ein anderer Grund ist möglicherweise rechtlicher Natur, da unter anderem der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier von einer möglichen Klagewelle aufgrund der durch den Lockdown versursachten wirtschaftlichen Schäden und der mangelnden rechtlichen Legitimation der Maßnahmen ausgeht. Er wies darauf hin, daß nicht die Rückkehr zur Normalität begründet werden müsse, sondern die Aufrechterhaltung des faktischen Ausnahmezustandes. Und daß die massive Einschränkung von Freiheiten eine gesetzliche Grundlage brauche, je länger sie dauere.
Am Montag haben die Forscher der Universität Bonn um Hendrik Streeck und Gunther Hartmann erstmals umfassende Daten der sogenannten Heinsberg-Studie vorgelegt. In Gangelt, einem Ort mit gut 12 500 Einwohnern in Nordrhein-Westfalen, wurden 919 Personen aus 405 Haushalten befragt und sowohl aktive Infektionen mittels PCR-Tests als auch überstandene Infektionen mithilfe von Antikörpertests erfaßt. 15 Prozent der Bevölkerung waren infiziert, fünfmal so viel wie offiziell vom RKI gemeldet. Die effektive Todesrate bezogen auf alle Infizierten betrug dabei rund 0,35 Prozent, deutlich weniger als vom RKI angegeben.
Gangelt war ein Sars-CoV-2-Hotspot, da sich nach diversen Karnevalsfesten sehr viele Menschen in kurzer Zeit infizierten. Alters- oder Pflegeheime waren jedoch nicht betroffen. Damit scheint die dortige Durchseuchungsrate nicht auf ganz Deutschland übertragbar. Laut dieser Studie infizierten sich in einem Haushalt keineswegs alle dort lebenden Menschen. Somit ist zu erwarten, daß man sich bei sorgfältiger Einhaltung von Abstands- und Hygieneregeln nicht bei jedem Infizierten ansteckt, der an einem vorbeigeht oder im selben Raum sitzt.
Drosten: Politiker wollen Verantwortung auf Virologen abladen
Berichte aus Südkorea, wonach zumindest 116 Menschen, die als genesen galten, erneut positiv auf das Virus getestet wurden, waren laut Forschern ein Analysefehler. Offensichtliche haben die PCR-Tests auf im Körper verbliebene Virusfragmente reagiert, die jedoch nicht mehr infektiös waren.
In Deutschland wie in mehreren europäischen Ländern sind bei einigen Kindern mit Coronavirus Symptome aufgetreten, die dem Kawasaki-Syndrom mit Fieber und entzündeten Blutgefäßen ähneln. In Deutschland sind es mindestens zwei Fälle, aber auch aus der Schweiz, Italien und Spanien wurden vereinzelt Fälle gemeldet. Es ist aber noch unklar, ob es einen Zusammenhang mit einer Coronavirus-Infektion gibt.
Der Virologe Christian Drosten kritisierte den Umgang einzelner Politiker mit wissenschaftlichen Daten, die dann später versuchen würden, die Verantwortung auf die Wissenschaftler abzuladen. Er führte aus: „Und dann kommen wir in diesen – wie ich finde – etwas gefährlichen Bereich rein, daß dann, sagen wir mal einem Institutsdirektor, zum Beispiel gesagt wird, du bist hier doch der Chef vom Ganzen, wir brauchen jetzt Zahlen von deinen Mitarbeitern.“ Dann gehe der Direktor zu seinen Mitarbeitern mit „erst halbvollen Tabellen“: „Der Minister, der will jetzt, daß wir was veröffentlichen, jetzt nehmen wir mal die halben Tabellen und schreiben die schon mal zusammen.“ Manchmal würden dann diese unfertigen Tabellen noch nicht einmal von Wissenschaftlern, sondern von Pressestellen zusammengefaßt, und das auf eine „plastische“, „für die Öffentlichkeit gedachte Weise“, kritisiert Drosten.
„Correctiv“ kritisiert RKI
Der Umgang der Bundesregierung mit solchen Zahlen ist mit dem Ablauf der Pandemie gut dokumentiert: Zu Beginn des Lockdowns wurde das Ziel ausgegeben, den Anstieg zu verlangsamen, um die Intensivabteilungen der Krankenhäuser nicht zu überfordern (Motto: „Flatten the curve“). Parameter war die Verdopplungszeit der Anzahl der Infizierten innerhalb von 10 Tagen, die nicht überschritten werden sollten. Dann galt eine Verdopplungszeit von 14 Tagen. Nun stehen viele für COVID-19-Patienten reservierte Intensivbetten in den Kliniken leer. Daraufhin wurde die Reproduktionszahl R der geltende Maßstab, mit dem Ziel eins, später unter eins, dann wurde vom RKI-Vizepräsidenten 0,2 genannt, später sollte sie „möglichst niedrig“ sein.
Die Methodologie der Berechnung wurde dann Mitte April geändert. Daraufhin galt die absolute Zahl der neu gemeldeten Fälle (wegen möglicher Einzelfallverfolgung durch die Gesundheitsämter) mit täglich unter 1.000. Nun gilt für Landkreise oder kreisfreie Städte „mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb der letzten sieben Tage“.
Die Plattform „Correctiv“, welche sich als erstes gemeinnützige Recherchezentrum im deutschsprachigen Raum bezeichnet, hat eine per Whatsapp geteilte Fotomontage, die einen fallenden Mann über den Wolken zeigte – mit der Unterschrift: „Fallschirmspringer ohne Fallschirm – stirbt am Coronavirus“ , untersucht. In der Messenger-App hieß es: „Die Statistik des RKI lügt. Selbst ein positiv getesteter Selbstmörder, dessen Todesursache offensichtlich nicht Corona ist, kommt in die Statistik der Corona-Toten.“
Das Virus wird uns lange begleiten
„Correctiv“ wandte sich an das RKI. Die RKI-Pressesprecherin Marieke Degenheit erklärte: „Das stimmt tatsächlich. Die beschriebene Situation ist aber sehr selten, sodaß die Zahl der Todesfälle nicht verzerrt wird.“ Das RKI zähle die COVID-19-Todesfälle, bei denen ein laborbestätigter Nachweis und ein Bezug mit der SARS-CoV-2-Infektion vorliegt. Das Risiko, an der Lungenkrankheit zu sterben, sei bei Personen mit bestimmten Vorerkrankungen höher. Daher sei es in der Praxis „häufig schwierig zu unterscheiden, inwieweit die SARS-CoV-2-Infektion unmittelbar zum Tode“ beigetragen habe.
Das neue Virus wird uns noch über Monate oder Jahre begleiten. Als Folge der Gegenmaßnahmen und der jahreszeitlichen Erwärmung werden die Fallzahlen im Sommer in den meisten Industrieländern zurückgehen. Gleichzeitig breitet sich die Pandemie in den Entwicklungsländern und auf der südlichen Hemisphäre aus.
Der Virologe Prof Kekule stellte in der Zeit eine Strategie des Smart Distancing (S.M.A.R.T): Schutz der Risikogruppen, Masken, Aufklärung des Infektionsgeschehens, Reaktionsschnelle Nachverfolgung und Tests) vor, um die Erkrankungswelle im kommenden Winter kontrollieren zu können.
Vor allem die Testkapazitäten sollten weiter ausgebaut werden. Unerklärlicherweise würden die vorhandenen Kapazitäten aufgrund der restriktiven, durch das RKI empfohlenen Handhabung nur etwa zur Hälfte genutzt. Das Testen wäre jedoch dringend notwendig, um Schutzmaßnahmen beispielsweise am Klinikpersonal zu gewährleisten, welches vorsorglich auf COVID-19 gescreent werden sollte, um Schließungen ganzer Abteilungen aufgrund von Quarantäneanordnungen zu vermeiden.
Zweifel am RKI sind angebracht
Die Bundesliga möchte durch die Untersuchung symptomfreier Fußballer ihre Geisterspiele gegen COVID-19 absichern. Warum gilt das nicht auch zum Schutz von Arztpraxen, Bewohnern von Altersheimen und anderen Risikopersonen? Da über 70jährige ein im Vergleich 100-faches Risiko gegenüber 20jährigen haben, an COVID-19 zu sterben, sollte diese Altersgruppe gezielt geschützt werden. Risikoangepasste, flexible Schutzkonzepte würden nicht weniger, sondern mehr Freiheiten für die Betroffenen bedeuten.
Laut Ausführungen des RKI-Präsidenten könnten die Gesundheitsämter die gegenwärtigen Fallzahlen vollständig nachverfolgen. Aufgrund der mangelnden Personalausstattung scheint das ähnlich realistisch wie die Aussagen von Gesundheitsminister Spahn im Februar dieses Jahres, man sei optimal auf die Pandemie vorbereitet.
Da man offensichtlich nicht vorbereitet war und es für moderate Abwehrmaßnahmen zu spät war, wurden Kontaktverbote und Ausgangssperren schließlich unvermeidlich. Daraus sollte man etwas gelernt haben und ein effektives Schutzkonzept für die Phase nach dem Lockdown installiert werden, welches die Rückkehr der Pandemie im Winter möglichst verhindert.