In den letzten Jahren gehörten die nationalen Minderheiten in der Ukraine zu den entschiedensten Befürwortern eines klaren Unabhängigkeitskurses und einer rußlandkritischen Westausrichtung des Landes. Insbesondere gilt das für die Krimtataren, die Polen und die in der sogenannten Karpatenukraine lebenden Ungarn. Auch die in dem von zahlreichen Völkern bewohnten Gebiet westlich des Karpatenbogens beheimateten sogenannten Ruthenen standen ganz hinter der Idee einer freien, vom Großen Bruder in Moskau losgelösten Ukraine. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie vor Ort unmittelbar die kulturelle Rivalität zu den in der Sowjetzeit massenhaft aus dem Osten zugewanderten, überwiegend russischstämmigen Menschen verspürten. Entsprechend gespalten waren in der Karpatenukraine die Wahlergebnisse. So stimmten in der zweiten Runde der historischen Präsidentschaftswahl von 2004 laut offiziellen Angaben im Gebiet Transkarpatien 55 Prozent für den orangenen Bewerber Wiktor Juschtschenko, aber immerhin 40 Prozent für seinen russophilen Gegner Wiktor Janukowytsch. Diese Verteilung ist für die Westukraine ungewöhnlich, wo Juschtschenko im selben Wahlgang beispielsweise im Gebiet Lemberg von 91,79 Prozent oder in der Region Czernowitz von 74,5 Prozent der Wähler unterstützt wurde. Ruthenen sind von der Führung in Kiew enttäuscht Am 25. Oktober 2008 rief der Zweite europäische Kongreß der Russinen (rusyn, so die Eigenbezeichnung der Ruthenen) nun eine Autonome Republik Unter-Karpatische Rus aus, verbunden mit einem Ultimatum an die Machthaber in Kiew, diese Territorialautonomie innerhalb des ukrainischen Staates bis zum 1. Dezember anzuerkennen. Andernfalls werde man den Kampf für die Unabhängigkeit aufnehmen, hieß es. Nachdem aus Kiew nur Gegendrohungen folgten, gab der Ministerpräsident der Republik Unter-Karpatische Rus, Pjotr Getsko, der staatlichen Moskauer Tageszeitung Rossijskaja Gaseta ein Interview, das deutlich zeigt, wie sehr die Ruthenen mittlerweile zum Spielball in den schwelenden ukrainisch-russischen Spannungen geworden sind. Getsko zufolge ist sein Volk, das jahrelang vergeblich versucht habe, im Rahmen der Ukraine einen Autonomiestatus zu erlangen, von der Führung in Kiew derart enttäuscht, daß man Rußland um die Anerkennung der eigenen staatlichen Unabhängigkeit bitte. Der deutschsprachige Moskauer Internetdienst Rußland-Aktuell lieferte zu dieser Forderung den passenden Kommentar: Es ist natürlich ausgesprochen unwahrscheinlich, daß Moskau dem Wunsch der Russinen nach Anerkennung ihrer Unabhängigkeit in absehbarer Zukunft nachkommen wird. Aber alleine, um die Kiewer Zentralregierung und die westukrainischen Nationalisten ein wenig zu quälen, könnte man in Moskau hin und wieder laut darüber nachdenken. Was diesem ethno-kulturellen Aufbegehren gehörigen wirtschaftspolitischen Nachdruck verschafft, ist die Tatsache, daß die internationale Ost-West-Gasleitung aus Rußland über die Regionalhauptstadt Uschhorod (Ungvár) in die Slowakei führt und das Verwaltungsgebiet Transkarpatien vor allem dank dieser Pipeline ein Viertel der Einnahmen zum ukrainischen Staatshaushalt beisteuert. Die Karpatenukraine liegt unmittelbar an den Grenzen zur Slowakei, zu Ungarn und Rumänien und erlebte im 20. Jahrhundert eine sehr bewegte Geschichte. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges gehörte das Gebiet zur Donaumonarchie, anschließend fiel sein größter Teil an den Vielvölkerstaat Tschechoslowakei (dort bekam der Landstrich um Munkatsch im Oktober 1938 kurzzeitig volle Autonomie), dann trotz Unabhängigkeitserklärung im März 1939 an Ungarn und 1945 schließlich an die Sowjet-Ukraine. Bereits zu Zeiten der 1848er Revolution vertraten einige Wortführer der Ruthenen (1900 waren es laut Volkszählung 540.000) erfolglos die Idee einer autonomen Region, in der sie im Rahmen des Habsburgerreiches zusammengefaßt sein wollten. Viele der meist in ärmlichen Verhältnissen lebenden Ruthenen wanderten in der Folgezeit nach Amerika aus oder zogen in die großen Städte, wo sie ihre Muttersprache verloren und sich völlig assimilierten. In der k.u.k-Zeit war es für diese Ostslawen mit traditionell überwiegend griechisch-katholischer Konfession nicht möglich, sich der ukrainischen Nationalität zuzuorden. Dies galt ebenso 1941, als bei einem ungarischen Zensus in Transkarpatien 544.000 Russinen registriert wurden. Bei den sowjetischen Volkszählungen war dann umgekehrt ein Bekenntnis als Ruthene nicht vorgesehen, so daß sich beispielsweise 1989 fast eine Million Bewohner der Karpatenukraine als Ukrainer definierten. Heute leben im Verwaltungsgebiet Transkarpatien etwa 1,3 Millionen Menschen, von denen nach Angaben der Regionalisten bis zu 800.000 Ruthenen sein sollen. Bei der letzten Volkszählung in der Ukraine gaben indes nur 10.000 Personen Russinisch als Nationalität an, und die Ukrainische Akademie der Wissenschaften bestreitet hartnäckig, daß es die Ruthenen als eigenständiges Volk überhaupt gibt. Als Umgangssprache verwenden sie meist einen ukrainisch-ostslowakischen Mischdialekt, teilweise mit polnischen und ungarischen Lehnwörtern. Für die Schriftsprache ist das kyrillische Alphabet in Gebrauch. Bis zu 800.000 Ruthenen leben in Transkarpatien Sicher ist, daß es eine klare Unterscheidung zwischen ruthenischer und ukrainischer Identität nicht gibt. Dennoch ist es falsch, wenn in vielen Lexika der Begriff Ruthene nur als veraltete Bezeichnung für einen Ukrainer auftaucht. Alleiniger Maßstab muß hier das Selbstverständnis der Menschen sein. In diesem Zusammenhang gilt es festzuhalten, daß die neue ruthenische Kultur- und Autonomiebewegung in den knapp zwei Jahrzehnten seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums beachtliche Erfolge verbuchen konnte. Bereits 1990 entstand in Uschhorod eine Gesellschaft der Karpaten-Russinen. Am 1. Dezember 1991 wurde in Transkarpatien gleichzeitig mit dem Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine sowie den Präsidentschaftswahlen nach dem Interesse an einer regionalen Selbstverwaltung gefragt. Bei einer Wahlbeteiligung von 83 Prozent stimmten 78 Prozent diesem Anliegen zu. Die ruthenischen Aktivisten sahen sich im Verein mit den örtlichen Vertretern der Ungarn veranlaßt, durch die Ausrufung einer Provisorischen Regierung der Subkarpatischen Rus am 19. Mai 1993 ihre Wünsche zu unterstreichen. Daraufhin verstärkten die Mächtigen in Kiew den politischen Druck und die Assimilationsversuche in Kultur und Bildung. Aus Polen wurden die Lemken 1945 vertrieben Letzteres dürfte gerade angesichts der jüngsten massiven Drohungen ruthenischer Vertreter nur schwer zu stoppen sein, da das größte Hindernis für eine wie auch immer geartete Autonomie im labilen Charakter der wiedererstandenen ukrainischen Nation zu sehen ist. Diese kann in den Augen der maßgeblichen Politiker, ganz besonders hinsichtlich des östlichen Landesteils und der Krim, nur durch eine zentralistische Politik zusammengehalten werden. Immerhin besitzt die ruthenische Bewegung, deren Hochburgen auf dem Lande und an der Universität Uschhorod liegen, neben der Gaspipeline noch weitere Trümpfe. An erster Stelle sind dies die vor Ort aufgebaute politische Infrastruktur mit eigenen Publikationen und einer stark beachteten Internet-Seite (www.carpatho-rusyn.org) sowie die intensive Zusammenarbeit mit ruthenischen Gemeinschaften in allen Erdteilen. Seit 1991 gibt es sogar einen Weltkoordinationsrat der Russinen. Angehörige dieses Volkes leben heute vor allem in der Slowakei und in den Beskiden in Südost-Polen. Von dort waren die sogenannten Lemken am Ende des Zweiten Weltkrieges deportiert worden; nur einige tausend konnten heimkehren. Kleinere Gruppen sind außerdem in Tschechien, Ungarn, Rumänien und der zu Jugoslawien gehörigen Wojwodina zu finden. Von besonderem intellektuellen Einfluß ist die Diaspora in den Vereinigten Staaten, die die Traditionen der zwischen 1880 und 1914 ausgewanderten ungefähr 225.000 Ruthenen fortsetzt. Schwerpunkte der gemeinsamen Arbeit sind der Kampf für die Anerkennung als eigene Nationalität und die Entwicklung einer einheitlichen Schriftsprache. Eine Art Joker ist die allerdings noch vage Aussicht auf eine Euroregion Karpaten. Die naturräumliche Lage des mit dem übrigen ukrainischen Staatsgebiet nur durch einige Bergpässe verbundenen Landstrichs macht eine starke Westausrichtung der regionalen Wirtschaft auf Dauer jedenfalls unvermeidbar. Foto: Waldkarparten im rumänisch-ukrainischen Grenzgebiet, ruthenischer Waldbauer: Joker ist die vage Aussicht auf Euroregion Karpaten, Grenzstadt Uschhorod (Ungvár): Wechselvolle Geschichte
- Kommentar