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Eine Trinkkur nach der Süßspeise beruhigt das Gewissen

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Eine Trinkkur nach der Süßspeise beruhigt das Gewissen

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Nachts hat es geregnet. Wie wallende weiße Schleier wabern Nebelschwaden auf den bewaldeten Höhen ringsum, die sich erst unter den Strahlen der Morgensonne langsam auflösen. In den regennassen Straßen von Marienbad spiegeln sich die Häuserwände in kleinen Wasserlachen, und die nahezu lautlos dahingleitenden Elektrobusse versprühen letzte Regentropfen. Langsam erwacht die Stadt zu neuem Leben. Die überdachte Neue Kolonnade oberhalb des gepflegten weitläufigen Kurparks belebt sich mit Kurgästen, die sich das heilende Wasser in Flaschen oder die traditionellen Schnabeltassen abfüllen. Im Bohemia, dem früheren Hotel Fürstenhof aus dem Jahre 1905, unten an der Hauptstraße, sitzen die ersten Frühaufsteher auf der Terrasse, trinken ihren Morgenkaffee, blättern in der Blesk, der tschechischen Bild-Zeitung, oder auch in der Prager Zeitung, dem deutschsprachigen „Wochenjournal aus der Mitte Europas“. Marienbad ist kein hektisches Pflaster mit lautem Nachtleben und lärmenden Touristenrudeln, sondern eher eine Oase der Ruhe, die sich im wiederaufgefrischtem Glanz der prächtigen Palast- und Hotelarchitektur aus k.u.k.-Zeiten sonnt. Spätestens Martin Walsers Roman „Ein liebender Mann“ hat den Schauplatz des Geschehens, das einstige Weltbad, das durch Kalten Krieg und Eisernen Vorhang etwas ins Abseits geraten war, auch für Literaturliebhaber wieder ins Licht des Interesses gerückt. Dabei ist Walser nicht der erste, der Goethes späte Leidenschaft zur jungen Ulrike von Levetzow als Roman gestaltet hat. Zuletzt hatte Joachim Fernau in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts das Thema in „War es schön in Marienbad; Goethes letzte Liebe“ behandelt: nicht weniger einfühlsam in seiner Art, wenn es auch der geistreich-ironischen Rededuelle zwischen den Liebenden in Walsers Psychogramm entbehrt. Und schließlich ist auch der EU-Beitritt der tschechischen Republik mit dem Wegfall der lästigen Grenzkontrollen ein Grund, daß nicht nur Literaturfreunde sich immer zahlreicher in die altberühmten Kurorte in Böhmen aufmachen. Während die Entwicklung des nur etwa fünfzig Kilometer entfernten Karlsbad und sein Aufstieg zu einem der berühmtesten Bäder Europas und zum bevorzugten Kur- und Konferenzort für die Aristokratie und politische Elite, für Literaten und Künstler im 19. und frühen 20. Jahrhundert verhältnismäßig langsam und stetig verlief und seine Tradition als Heilbad bis auf Kaiser Karl IV. als Namensgeber im 14. Jahrhundert zurückreicht, ist Marienbad, das im vorigen Jahr sein zweihundertjähriges Bestehen feierte, der jüngste Kurort im böhmischen Bäderdreieck, dessen rasantes Wachstum sich vor allem den glücklichen Zeitumständen verdankt. Der Anfang war höchst bescheiden. Aus kaum mehr als drei, vier Holzhäusern und Hütten bestand das winzige böhmische Dorf in sumpfigem Waldgelände, als im Jahre 1808 der Abt des nahegelegenen Klosters Tepl den von den Mönchen schon seit längerem genutzten Quellen und Badehütten den Namen Marienbad gab. Zu den ersten tatkräftigen Förderern des schnell aufstrebenden Ortes gehörten einflußreiche und finanzstarke Persönlichkeiten wie Fürst Schwarzenberg und der österreichische Staatskanzler Metternich, dessen Sommerresidenz Königswart nur wenige Kilometer entfernt lag. Die GIs waren 1945 von soviel Pracht überwältigt Zwölf Jahre später schon unternahm Goethe von Karlsbad aus einen ersten Ausflug nach Marienbad. In den anschließenden Jahren folgten drei weitere längere Kuraufenthalte, bei denen der 73jährige nicht nur geologische Studien betrieb, ein deutsch-böhmisches Wörterbuch in Angriff nahm, sondern vor allem in heftiger Leidenschaft für die 19jährige Ulrike von Levetzow entflammte. Das einstige Gasthaus „Zur Goldenen Traube“ am Goetheplatz, unterdessen das älteste Haus der Stadt, wo er zuletzt logierte, beherbergt heute ein Museum. Die Zimmer, die er dort bewohnte, sind originalgetreu im damals modernen Biedermeierstil wiederhergestellt. Das benachbarte Knebelsberger Palais, im Walserschen Roman der Ort vieler kluger, schnippisch-verliebter Dialoge zwischen Goethe und Ulrike, später „Haus Weimar“ genannt, in den folgenden Jahrzehnten vielfach um- und ausgebaut, wird gegenwärtig restauriert und soll anschließend als Hotel Kaukasus eröffnet werden. Hier schrieb er der Petersburger Pianistin Maria Szymanowska die „Aussöhnung“ benannten Verse ins Stammbuch, die er später mit der berühmten „Marienbader Elegie“ und dem Vorspruch zur Neuausgabe des „Werther“ als „Trilogie der Leidenschaft“ zusammenfaßte, weil, wie er Eckermann anvertraute, alle drei Gedichte von demselben liebesschmerzlichen Gefühl durchdrungen waren. Die späte Liebesleidenschaft des Dichterfürsten blieb bekanntlich platonisch. Sein Heiratsantrag verfiel höflicher Ablehnung. Jahrzehnte später versicherte Ulrike allen üblen Nachreden zum Trotz, „daß sie keine Liebschaft nicht mit ihm hatte“. Sein 1932 zum hundertsten Todesjahr im Goethepark vor der einstigen „Goldenen Traube“ errichtetes Denkmal wurde bei Kriegsende beseitigt und erst 1993 als Neuschöpfung eines örtlichen Bildhauers wieder aufgestellt. Es zeigt den gealterten, mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Lehnstuhl sitzenden Dichter, wie er nachdenklich in die Ferne blickt. 1865 erhielt Marienbad den Status einer Stadt. Das dreiteilige Wappen, das sie von da ab führte, zeigt die drei Merkmale, mit denen die Stadt sich identifiziert wissen möchte: die Jungfrau Maria mit dem Kind als Ortspatronin, die Kuppel der überdachten Kreuzquelle und den Waldbrunnen zwischen hohen Tannen, um den sich eine Äskulapnatter windet. Die „allergnädigste“ Erhebung (Kaiser Franz Joseph) zur Stadt bewirkte einen gewaltigen Bauboom mit immer pompöseren Hotel- und Kurpalästen. In den anschließenden Jahrzehnten erstrahlte der Ruhm und die Schönheit des eleganten Modebades in hellstem Glanz und zog nicht nur gekrönte Häupter, sondern auch zahlreiche Künstler und die vermögende bürgerliche Oberschicht zu längerem Aufenthalt an. Die Einwohnerzahl schnellte in die Höhe und stieg von 1.700 im Jahre 1868 auf 7.400 im Jahre 1930, davon 6.340 Deutsche und 520 Tschechen. Gegenwärtig beträgt sie 15.000. Die meisten der auch heute noch das Erscheinungsbild der Stadt bestimmenden Gebäude und Hotels mit ihren sorgfältig restaurierten imposanten Schaufassaden, oft ein architektonischer Mix aus neubarocken, neuklassizistischen und Jugendstil-Elementen, und auch die das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens und des Kurbetriebes bildende 119 Meter lange Neue Kolonnade entstanden in dem halben Jahrhundert zwischen 1865 und 1914. Angesichts dieser verschnörkelten und überladenen Fassadenpracht, die im Grunde eine bürgerliche Nachahmung und Wiederholung der monarchischen Repräsentations- und Herrschaftsarchitektur war, wird verständlich, aus welchem Gefühl heraus Adolf Loos um 1910 sein Diktum vom Ornament als Verbrechen abgab und für eine sachliche, geometrisch einfache Fassadengestaltung plädierte, obwohl wir Heutigen inzwischen nach den vielfachen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, einer oft monotonen architektonischen Moderne und vielen zweifelhaften städtebaulichen Experimenten in der Nachkriegszeit andere Vorstellungen haben und jene Hypertrophie des Ornaments im Stadtbild nicht mehr missen wollen. Für amerikanische Augen jedenfalls muß der Anblick dieser Pracht überwältigend gewesen sein, als die GIs 1945 nach Durchquerung all der Trümmerhaufen, in die ihre Air Force und die RAF die deutschen Städte verwandelt hatten, in den unzerstörten Ort einzogen. Der Kurbetrieb wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem kommunistischem Regime fortgesetzt. Heilquellen und Hotels wurden verstaatlicht und letztere in gewerkschaftliche Erholungsheime umgewandelt mit dem Ergebnis, daß die Publikumsstruktur sich radikal veränderte. Von den Folgen haben sich viele ehemals noble und nach 1990 wieder unter privater Leitung stehende Häuser nur langsam erholt. Dem Ruf und der Heilkraft der natürlichen Mineralquellen Marienbads konnte das alles wenig anhaben. Nahezu vierzig an der Zahl sprudeln sie als sogenannte kalte Sauerbrunnen mit Temperaturen zwischen 7 und 10 Grad Celsius und reichem Gehalt an Magnesium, Kalzium und Natrium aus der Tiefe und werden als Trink- oder Badekuren gegen mannigfache Leiden verabreicht: Erkrankungen des Verdauungstraktes, Stoffwechselstörungen, Fettleibigkeit und allergische Beschwerden. „Der Kreuzbrunnen versammelt die Dicken aus aller Welt in dem eleganten Waldkurort“, spöttelte ein Beobachter in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die russische Vorliebe für aristokratische Milieus In den Wandelgängen der Neuen Kolonnaden mit ihrer verspielt-graziösen Filigranarchitektur hat man die Wahl zwischen Ferdinandsbrunnen, Karolinenbrunnen, Rudolfbrunnen und Kreuzbrunnen. „Eigentlich ist es ganz egal, aus welcher Quelle man trinkt“, meint die ältere Dame in einem der Cafès in der Kolonnade, indem sie an ihrem Cappuccino nippt und sich dann wieder dem Palatschinken zuwendet, während aus der „singenden Fontäne“ der Gefangenenchor aus „Nabucco“ ertönt – „gut für Magen und Darm, Leber und Nieren sind sie alle, und so eine Trinkkur nach der Süßspeise beruhigt das Gewissen“. Mediziner bestätigen, daß die Balneotherapie in den letzten Jahrzehnten steigende Bedeutung erlangt hat. Trink-und Badekuren in schöner Umgebung im Herzen Europas und in aristokratischem Milieu waren freilich auch in früheren Zeiten beliebt. Marienbads zweihundertjähriges Gründungsjubiläum nimmt die örtliche Tourismuswerbung zum Anlaß, die prominentesten Besucher der Stadt zwischen 1808 und 2008 mit kurzen biographischen Daten aufzuzählen. Die Liste ist lang geworden, naturgemäß unvollständig und reicht (von Goethe einmal abgesehen) von Ihren kaiserlich-königlichen Hoheiten, durchlauchtigsten Prinzen und Erzherzögen Franz, Ferdinand und Karl über Richard Wagner mit Ehefrau Minna, Anton Bruckner, Friedrich Nietzsche, Mark Twain bis zum englischen König Eduard VII, der sich besonders begeistert geäußert haben soll und hier 1905 eine der ersten Golfanlagen auf dem Kontinent gründete. Nietzsche, der große Unzeitgemäße, wohnte im Sommer 1880 mehr als vier Wochen lang am Rande der Stadt in dem einsam im Walde gelegenen Hotel Eremitage. Nach seiner Gewohnheit hielt er sich meistens in der freien Natur auf und kritzelte dabei seine Gedanken ins Notizbuch. An Peter Gast schrieb er, daß es ganz recht sei „jetzt wieder Eremit zu sein, zehn Stunden des Tages als solcher spazierenzugehen, fatale Wässerchen zu trinken und ihre Wirkung abzuwarten“. Auffällig ist die starke Präsenz der Russen in diesen Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Gogol, Turgenjew, Gorki, sie alle verbrachten oft viele Wochen in Marienbad. Diese Vorliebe vieler Russen für aristokratisches Milieu findet seine Fortsetzung in der Gegenwart. Allerdings sind heute nicht mehr Literaten oder Musiker die Liebhaber eines feudalen Ambiente, sondern die neureiche Schicht des postsowjetischen Rußland. Augenfällig wird dies bei jedem auch nur flüchtigen Blick auf Hotelpreislisten, Speisekarten und touristische Hinweise, die fast alle neben deutsch und englisch auch in russisch abgefaßt sind. Viele Immobilienverkaufsannoncen an Altbauten sind nur in kyrillischer Schrift geschrieben. Wie man raunt, soll der Immobilienmarkt in Marienbad und Karlsbad mittlerweile deutlich von russischem Kapital dominiert werden, so daß bis zu fünfzig Prozent der Edelimmobilien in russische Hände übergegangen sein sollen. Derartige Gerüchte sind naturgemäß schwer zu verifizieren, dürften aber nicht unrealistisch sein. Vor rund hundert Jahren fand die feierliche Eröffnung der mit Spenden russischer Kurgäste und mit Unterstützung der zaristischen Regierung erbauten russisch-orthodoxen Kathedrale des Heiligen Wladimir statt. In der Nachmittagssonne leuchtet sie mit ihren vergoldeten Kreuzen auf den Kuppeln und den malerisch verschachtelten Loggien wie eine Vision aus einem morgenländischen Märchen. Die Geschichte wiederholt sich nicht selten. Langsam verschwindet die Sonne hinter aufziehendem dunklen Gewölk. Nachts wird es wieder regnen. Foto: Kolonnaden in Marienbad: „Der Kreuzbrunnen versammelt die Dicken aus aller Welt“

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