Sechzehn Jahre nach dem Vollzug der staatlichen Einheit lädt der Zustand des Landes zu lyrischer Betrachtung nicht mehr ein. Die Stichworte, die in den Sonntagsreden aneinandergereiht werden: der Stand der inneren Einheit; die Frage, ob Deutschland östlicher und protestantischer geworden sei oder eher nicht; der Streit um den Totalumzug der Regierung nach Berlin; die Diskussionen über die „Lehren aus der Geschichte“ – sie klingen akademisch oder vorgestrig angesichts einer alarmierenden Realität. Ausgelöst durch ökonomische Entwicklungen und dramatische Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur, deren Wirkung durch politische Fehlentscheidungen und Unterlassungen potenziert wird, ist ein Beben spürbar, das die Frage aufwirft, wie lange die Grundlagen, aus denen solche Sonntagsreden erwachsen, überhaupt noch Bestand haben werden. Es geht längst nicht mehr nur um konjunkturelle oder um Detailprobleme wie Entbürokratisierung, Gesundheitsreform, Schuldenabbau usw., so wichtig sie jeweils sind, es geht auch nicht bloß um den Charakter des Staates als Demokratie, Sozial- oder Rechtsstaat, sondern es geht um den Staat selbst – um den Staat als den politischen Status eines in territorialer Geschlossenheit organisierten Volkes. Die Realität von heute und erst recht das, was sich für die Zukunft abzeichnet, stehen im Kontrast zu den Analysen und Vorhersagen, die 1990 kursierten. Erinnert sei an die megalomanischen Prognosen über das Entwicklungspotential Berlins oder über den „deutschen Koloß“, der in der Mitte Europas im Entstehen sei mit seiner Neigung zu Dominanz und Hegemonie. Der daraus resultierenden Gefährdung des „Weltfriedens“ sollte durch seine „Einbindung“ vorgebeugt werden. Diese Mischung aus Größenwahn und Selbstverzicht entsprang einer gestörten Selbstwahrnehmung, die nach mehr als vierzig Jahren der Teilung erklärlich war, die sich aber in den sechzehn Jahren Einheit noch verstärkt hat. Daraus folgt die Unmöglichkeit, die eigenen Kräfte, Chancen, Risiken und Interessen zu definieren und abzuwägen, das heißt, sich zum erwachsenen politischen Subjekt zu entwickeln. Beispielhaft dafür steht die spektakulärste Entscheidung der letzten Jahre, der als historisch bezeichnete Entschluß der Bundesregierung, deutsche Kriegsschiffe in den Nahen Osten auslaufen zu lassen. Sein Zustandekommen und die Konsequenzen sind in der öffentlichen Diskussion völlig unterbelichtet geblieben. Die Kanzlerin hat den Einsatz damit begründet, daß Deutschland nicht neutral sein könne, denn es habe das Existenzrecht Israels zu sichern, das Teil der deutschen Staatsräson sei. Man möchte den deutschen Politikern raten, den Mund zu halten, wenn ihnen das Herz überfließt! Denn Angela Merkel, indem sie Deutschland zur Konfliktpartei erklärte, machte in den Augen vieler Araber die Uno-Mission unmöglich, die selbstverständlich neutral angelegt sein muß, um wirksam zu sein. Sie kompromittierte die deutschen Soldaten gegenüber der Hisbollah, gefährdete ihr Leben und öffnete eine politisch-psychologische Flanke für Terroranschläge im eigenen Land. Eine reife, nach innen und außen verantwortungsvolle Mittelmacht hätte zumindest angesprochen, daß der Wunsch des Libanon nach deutschen Kriegsschiffen auch damit zusammenhängt, daß die Stationierung die Bedingung Israels dafür war, seine Seeblockade gegen den Libanon aufzuheben, der Einsatz also de facto auf einer Erpressung beruht. Damit wird der Begriff der deutschen Staatsräson höchst problematisch: Sie kann niemals die konkrete Politik eines anderen Landes umfassen, denn das hieße, sie von den Entschlüssen und Interessen des anderen abhängig zu machen und damit in letzter Konsequenz zu dessen Gun-sten aufzugeben. Vielleicht ist gerade damit das größte Defizit der aktuellen deutschen Politik bezeichnet. Vorgetragen und verantwortet wird sie von einer norddeutschen Pfarrerstochter, die in der DDR aufgewachsen ist. Damit ist die Frage, ob und wie das östlich-protestantische Element die sehr westdeutsch und katholisch geprägte Bundesrepublik politisch befruchtet hat, en passant beantwortet. Der Eindruck ist unabweisbar, daß die aktuelle politische Klasse den außen- und innenpolitischen Aufgaben, die dem Land durch die Wiedervereinigung gestellt sind, weniger gewachsen ist, als es die Gründer- und Aufbaugeneration gewesen wäre. Insofern fällt die Bilanz des Berlin-Umzugs enttäuschend aus. Es ging neben der staatspolitischen Symbolik ja auch um eine neuartige Kommunikation zwischen Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur usw., also um die Neukonditionierung und -zivilisierung der politischen Klasse im Kontext einer internationalen Metropole. Der Soziologe Heinz Bude erwartete eine „Generation Berlin“, die irgendwie härter, realistischer, weltläufiger und selbstbewußter sein sollte als die Generation Bonn. Doch der Begriff ist eine schillernde Seifenblase geblieben, wie sie der Medienbetrieb in immer kürzeren Intervallen produziert. Trotz Föderalismusreform und der Glitzerburgen im Berliner Regierungsviertel wird die Bundespolitik weitgehend aus den Ländern und der Perspektive von Zaunkönigen entworfen. Den Verteidigungsminister, der für die Militäreinsätze in Kongo, Nahost, Afghanistan usw. die Verantwortung trägt, qualifiziert für sein Amt allein die Nähe zum hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, der im Kabinett seiner parteiinternen Konkurrentin einen Verbindungsmann plazieren wollte. Die anderen Alternativfiguren sind Kurt Beck, der bewährte Knuddler rheinland-pfälzischer Weinköniginnen, oder Klaus Wowereit, dessen einzige programmatische Aussage die Bekanntgabe seiner sexuellen Präferenz war. Noch trüber wird die Bilanz, wenn man sich die Konzepte der zweifellos notwendigen Bildungsoffensive, die zuletzt in der Berliner Rede des Bundespräsidenten beschworen wurde, genauer ansieht. Es geht nicht darum, den wissenschaftlichen Rang wiederzuerlangen, den Deutschland einst innehatte und den es wiedererringen müßte, um sich wirtschaftlich, sozial, militärisch und lebensweltlich zu behaupten. Die Zielstellung lautet, einen Alphabetisierungsgrad zu erreichen, der vor hundert Jahren in Preußen-Deutschland selbstverständlich war und hinter den man durch eine desaströse Bildungs- und Zuwanderungspolitik zurückgefallen ist. Wie es mit dem Land weitergehen soll, das innen- und gesellschaftspolitisch zerfleddert, von außen bedrängt und von einer haltlosen politischen Klasse regiert wird, das wird man aus den feiertäglichen Reden am 3. Oktober leider nicht erfahren.