Wunder gibt es immer wieder, und völlig ausschließen kann man sie auch diesmal nicht. Im Wahlkampf 2002 wurde ein bereits erledigter Kanzler Gerhard Schröder vom Irak-Krieg und der Elbflut gerettet. Für eine Wiederholung des Schröder-Mirakels würde das nicht mehr ausreichen. Dafür müßte schon US-Verteidigungsminister Rumsfeld in flagranti erwischt werden beim Sprengen der Dämme an Oder und Elbe oder beim Diebstahl von Hans Eichels Staatskasse – zur Finanzierung eines Iran-Krieges. Weil die US-Administration ihrem Intimfeind Schröder diesen Gefallen kaum tun wird, wollen wir uns an das Naheliegende halten. Naheliegend ist, daß Schröder bis zum Wahltermin mit einem Anspringen der Binnenkonjunktur nicht rechnen kann. Das angekündigte Vorziehen der Bundestagswahl hat den deutschen Konsumklima-Index weiter in den Keller rasseln lassen. Bleibt ihm als letzte Chance die Personalisierung des Wahlkampfs, vor allem die Fernsehduelle mit Angela Merkel. Schröders Alternative wird lauten: Ich – denn die hat kein Format! Merkel wird vor der Kamera in niederschmetternder Weise den kürzeren ziehen. Im besten Fall wird sie, weil sie über den präziser arbeitenden Verstand verfügt, Schröder gelegentlich bei logischen Fehlern ertappen. Der Medienkanzler wird ihre Einwände nach Machoart ins Lächerliche ziehen. Doch nützen wird ihm das nichts. Einen Hinweis darauf geben die Konstellationen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, wo Simonis gegen Carstensen beziehungsweise Steinbrück gegen Rüttgers stand. Die SPD-Kandidaten waren populärer, wirkten sympathischer, eloquenter, durchsetzungsfähiger, auch kompetenter. Den Überdruß an Rot-Grün und das allgemeine Gefühl, daß die es einfach nicht können, waren trotzdem stärker. Schröder wurde Exponent eines linken Wilhelminismus Schröder hat mit der Reformagenda 2010 Mut bewiesen. Die Grundaussage lautet, daß es nicht mehr um das Verteilen von Zuwächsen, nicht einmal mehr um Bestandschutz geht, sondern um die Verwaltung des Weniger. Das ist ein politischer Paradigmenwechsel. Im Grunde weiß oder ahnt jeder, daß dieser Ansatz alternativlos ist. Nur hat Schröder diese Wende zu spät, zu zögerlich und zusammenhangslos eingeleitet. Den entscheidenden Fehler machte er bereits 1998/99 mit der Rücknahme der zahmen Reformen, die noch Helmut Kohl eingeleitet hatte. Nach diesem „Hott“ wollte man ihm das „Hüh“ nicht mehr recht abnehmen. Sein Pech ist auch, daß das System der Hartz-Gesetze, das als mehrstufige Rakete konstruiert wurde, einfach nicht zünden will. Das mag ja noch kommen, auch Margaret Thatcher hatte in den ersten Jahren ihrer Regierung nichts als Katastrophenmeldungen aufzuweisen. Doch kann auch von einer Finanzpolitik gegenwärtig nicht die Rede sein, und wie es mit dem „Aufbau Ost“ weitergeht, weiß ebenfalls niemand. Das Problematische ist, daß der SPD-Kanzler ohne theoretischen Vorlauf dasteht, keine Vision einer erneuerten Gesellschaft vermittelt, für die man Opfer auf sich nimmt. Das ist nicht nur seine Schuld. Die deutschen Parteien, anstatt das viele Geld, das sie vom Staat erhalten, zur Finanzierung von Denkfabriken zu verwenden, mästen davon ihre leerlaufenden Apparate. Schröders persönliches Charisma stellt kein politisches Kapital mehr da, es hat sich als leeres Versprechen, als ungedeckter Scheck erwiesen. Schade für das Land! „Wir waren die Asozialen“, sagte Schröder kürzlich über seine familiäre Herkunft aus dem Lumpenproletariat. Sein Aufstieg – Abitur auf dem zweiten Bildungsweg, Jurastudium – nötigt Respekt ab und verweist auf Intelligenz, Fleiß, Durchhaltewillen, auf Härte gegen sich selbst – auf Fähigkeiten und Eigenschaften also, die im aktuellen deutschen Jammertal nötiger sind als alles andere. Warum hat er seine Energien nicht in solide Politik umsetzen können? Ein Grund dafür ist die spezifische politische Sozialisation der Schröder-Generation. Ihren Aufstieg erlebte sie im Windschatten einer Kulturrevolution, die auf die Schleifung staatlicher Institutionen und gesellschaftlicher Formalien abzielte. Schröder, Lafontaine und andere profilierten sich noch gegen den Staat, als sie schon dessen Repräsentanten waren, als Ministerpräsidenten, Fraktionschefs oder Parteivorsitzende. Dieser in gewisser Weise zutage tretende Infantilismus hinderte sie daran, die Konsequenzen ihrer politischen Planspiele und Rhetorik für das staatliche Ganze zu Ende zu denken. Als sie sich plötzlich auf der Kommandobrücke der Bundespolitik wiederfanden, waren sie völlig überfordert. Die Unsicherheit wurde mit auftrumpfenden, politisch aber substanzlosen oder gar schädlichen Gesten überdeckt. Damit ist Schröder tatsächlich zum Exponenten eines linken Wilhelminismus geworden. Merkel nutzte stets nüchtern die Gegebenheiten für sich Deutlich wird das auch an seiner Außenpolitik: Deutschland vor einer Teilnahme am Irak-Krieg bewahrt zu haben, bleibt sein Verdienst. Doch statt durch stille Sondierungen Bündnispartner zu gewinnen, verlegte er sich auf wilde Marktschreierei. Das trieb ihm Wähler zu, vergrößerte aber den Zorn der übermächtigen USA und beschädigte die Europäische Union. Dann forcierte er, um die Amerikaner zu besänftigen, die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Er poussiert mit Rußland, dann wieder mit China, was wiederum den Russen nicht gefallen kann, und beides bringt die Amerikaner gegen Deutschland auf. Der Schulterschluß mit Putin stößt die neuen EU-Länder vor den Kopf, für deren Aufnahme die Bundesregierung sich – wegen „unserer besonderen geschichtlichen Verantwortung“ – so sehr eingesetzt hatte, daß sie darüber vergaß, Verträge auszuhandeln, die die Billiglöhnerei begrenzten. Zum Dank dafür lehnen die Polen und andere, denen die deutsch-russische Allianz unheimlich ist, sich an die USA an, was diese in die Lage versetzt, in der EU nach Belieben als Spaltpilz tätig zu werden. Dann fährt Schröder nach Polen oder Prag, um dort zu versichern, daß die Vertreibung der Deutschen ganz in Ordnung war, was wiederum die moralischen Grundlagen der EU zerstört. Im Ernstfall aber könnte das schrumpfende Deutschland weder Rußland noch China etwas bieten, was die dynamischen USA ihnen nicht doppelt und dreifach bieten können. Was also ist der große Plan, der hinter seinen weltpolitischen Posen steckt? Schröder mag noch so gewinnend und sympathisch auftreten: Die Frage, warum er noch einmal vier Jahre als Kanzler dürfen soll, ist unbeantwortbar. Nun also Angela Merkel. Die Tatsache, daß am Ende niemand in der Union mehr an ihr vorbei konnte, ist ein Symptom der politischen Schwäche und Entkernung dieser Partei. Denn was spricht für sie? Zunächst einmal, gewiß, ihr Weg an die Spitze der Union, und zwar ohne die Hilfe einer seit Jugendjahren geknüpften Seilschaft, ohne starken Landesverband im Rücken, ohne den parteitypischen Stallgeruch: Das ist Ausweis eines fast schon bismarckischen Machtgeschicks. Ihr ist, unter Hinweis auf ihre hyperaktive FDJ-Zeit und der anschließenden schnellen Wendebewegungen über den basisdemokratischen „Demokratischen Aufbruch“ hin zur Kohl-CDU, Opportunismus vorgeworfen worden. Zu Unrecht. Merkel ist von Haus aus Naturwissenschaftlerin. Sie hing nicht, wie die meisten Gesellschafts- und Geisteswissenschaftler in der DDR (und im Westen), politischen Utopien an, sondern schätzte nüchtern die Gegebenheiten ein und versuchte sie für sich zu nutzen. Sie wurde rasch zum Inventar westlichen Parteienbetriebs Die thüringische Politikerin und Physikprofessorin Dagmar Szypanski, die 1999 gegen Johannes Rau für das Präsidentenamt kandidierte, äußerte in einem Interview, sie habe bereits um 1980 begriffen, daß der technologische Rückstand der DDR nicht mehr aufzuholen war. Entsprechend habe sie die Zukunftsaussichten des Landes eingeschätzt. Einen vergleichbaren Prozeß, nur zeitversetzt und beschleunigt, hat wohl auch Merkel durchlaufen. Nach 1990 war sie verwundert, wieviel Sozialismus in der Bundesrepublik herrschte. Ihre Bestandsaufnahme von heute lautet, daß das Land von der Substanz lebt. Sie schätzt Ludwig Erhard, aber nicht die Auswucherungen des rheinischen Kapitalismus, den sie für überholt hält. Der ideologische Familienklimbim, der an ihm hängt, ist nicht der ihre. Trotzdem bleibt die Frage offen, was sie zur Kanzlerschaft befähigt außer ihr Wille zur Macht. In welche Richtung will sie das Land steuern, was sind ihre Überzeugungen und Prägungen? In den Neuen Ländern wird Merkel keineswegs als „ostdeutsch“ empfunden, zu schnell und bruchlos ist sie zum prominenten Inventar des westlich dominierten Parteienbetriebs geworden. Wegen ihrer Sprödigkeit ließe sie sich am ehesten als „norddeutsch“ verorten, aber noch die gebürtige Rheinländerin Heide Simonis hat in dieser Hinsicht weit mehr folkloristische Funken versprüht als Merkel. Sie wirkt wie ein technizistisches Neutrum. Das könnte zum Problem werden. Sicher, vor anderthalb Jahren hat sie vor den Arbeitgebern eine radikale Reform des Sozialstaates und des Steuerrechts propagiert. Um eine Kanzlerschaft zu begründen, ist das zu wenig. Zieht man die Quersumme aus ihren Reden, dann stellt sie sich den Staat als einen großzügig bemessenen, ordnungspolitischen Rahmen vor, in dem selbstverantwortliche Individuen frei flottieren. Doch das funktioniert nirgendwo, erst recht nicht im sozialstaatlich-paternalistisch tradierten Deutschland. Sie wird sich ein paar Gedanken über ein gesellschaftspolitisches Konzept machen und für dieses dann einstehen müssen. Als Friedrich Merz den Begriff der „deutschen Leitkultur“ an die Öffentlichkeit trug und einen Zusammenhang herstellte zwischen dem rechtsstaatlich-demokratischen Normengefüge und dem Naturrecht des deutschen Volkes im eigenen Land, ging sie beim ersten Gegenwind in Deckung und stand dumm und stumm daneben, als Paul Spiegel anläßlich des „Aufstandes der Anständigen“ die „deutsche Leitkultur“ und das Verbrennen von Menschen in einem Atemzug nannte. Solchen Beleidigungen des Gemeinwesens wird sie entschieden entgegentreten müssen, falls sie tatsächlich als Staatsfrau reüssieren will. Immerhin, in der Frage einer EU-Mitgliedschaft der Türkei hat sie Position bezogen. Wird sie sie halten? Symbolische Scheinhandlungen à la Schröder sind ihr glücklicherweise fremd. Sie wird aber lernen müssen, besser als bisher in der Mediendemokratie zu bestehen. Fatal war es zum Beispiel, ihr Konzept zur Gesundheitsreform mit dem Begriff „Kopfpauschale“ zu garnieren. Das Wort assoziiert eine semantische Nähe zum „Kopfgeld“, zur kriminellen Wegelagerei also. Phonetisch liegt es nahe am „Kopfschuß“, eine ebenfalls unangenehme Angelegenheit. Zuerst aber sollte die Partei ihr einen Therapeuten zur Seite stellen, der ihr das störende Nägelknabbern abgewöhnt. Wir leben, wie gesagt, in einer Mediendemokratie, in der die Kanzlerkandidatur oder dann schließlich die Kanzlerschaft auch eine ästhetische Angelegenheit ist. Voraussichtlich im September steht die Western-Adaption „Das Duell“ mit Gerhard Schröder und Angela Merkel in den Hauptrollen auf dem Spielplan: „Vor der Kamera wird die christdemokratische Herausforderin in niederschmetternder Weise den kürzen ziehen. Mit seiner berüchtigten Machoart wird der sozialdemokratische Medienkanzler ihre Einwände ins Lächerliche ziehen. Doch nutzen wird ihm das nichts.“ Stichwort: Biographien der Kandidaten Gerhard Schröder vier Mal verheiratet – Eva Schubach, Anne Tschenmacher, Hiltrud Hampel, Doris Köpf, eine Stief- und eine Adoptivtochter geboren 1944 in Ostwestfalen Hauptschule, zweiter Bildungsweg mit Abitur 1965 1963 Eintritt in die SPD 1966 bis 1971 Jura-Studium in Göttingen, bis 1976 Refendar 1978 bis 1980 Bundesvorsitzender der Jusos 1980 bis 1986 MdB, dann bis 1990 MdL in Niedersachsen 1990 bis 1998 Ministerpräsident 1999 bis 2004 SPD-Vorsitzender 1998 bis 2005 Bundeskanzler Angela Merkel zwei Mal verheiratet – Ulrich Merkel, Joachim Sauer kinderlos geboren 1954 als Angela Kasner in Hamburg 1973 Abitur, danach bis 1978 Physikstudium, danach Institutsarbeit an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin 1986 Promotion 1989 „Demokratischer Aufbruch“ 1990 Eintritt in die CDU 1991 stellvertr. CDU-Parteivorsitz, Bundesministerin Frauen/Jugend 1994 Bundesumweltministerin 1998 CDU-Generalsekretärin 2000 CDU-Vorsitzende