Die Potsdamer Konferenz, die vor genau sechzig Jahren tagte, hat die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten zwar nicht beschlossen – das hatten die Siegermächte sukzessive schon vorher getan -, aber gebilligt und kodifiziert. Das „Potsdamer Abkommen“ ist daher zu Recht zum Synonym für ein Jahrhundertverbrechen geworden. Wenn „Potsdam“ heute in Deutschland nicht nur als rechtliches Argument angeführt wird, sondern auch als moralischer Einwand gegen ein Zentrum, das die Vertreibung thematisiert, ist das nur ein Ausdruck der Verwirrungen, die das Abkommen und seine Konsequenzen gestiftet haben. Die Vertreibung und die Gebietsabtrennungen erwiesen sich als das, worauf sie von Anfang an angelegt waren: als irreversibel. Sind sie deshalb bloße Historie? Keineswegs. Denn es bedeutet einen Unterschied für das kollektive Selbstbewußtsein und das aktuelle Handeln, ob man sich einem unabänderlichen Diktat pragmatisch beugt, oder ob man es, wie heute, zu etwas moralisch, juristisch, politisch, historisch Wünschbarem verklärt und damit der Verwirrung seiner Maßstäbe und Gedanken Tür und Tor öffnet. Ein Viertel der Bevölkerung war betroffen, ein gleicher Anteil des Territoriums ging verloren, vertraute Landschaften und bedeutende Städte verschwanden hinter dem Eisernen Vorhang, manche davon bis 1989, von den kulturellen und materiellen Verlusten und den seelischen Notlagen ganz zu schweigen, doch auf der offiziellen und staatlichen Ebene spielt das keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Immerhin hatte der Staat einige Jahrzehnte die Organisationen und das Kulturleben der Vertriebenen mitfinanziert – einige Bundesländer tun das noch -, auch um den sozialen Frieden zu erhalten und den Regierungsparteien Wählerstimmen zu sichern. Inzwischen sind die Vertriebenen schon aus biologischen Gründen keine politisch relevante Kraft mehr. Just zu diesem Zeitpunkt hat sich der staatliche Kältestrom verstärkt. Finanzmittel werden gestrichen, das „Zentrum gegen Vertreibung“ sabotiert, die einschlägige Forschung, Einrichtungen und Bibliotheken werden zusammengestrichen, in offiziösen Publikationen werden polnische oder tschechische Sichtweisen dominant. Ostdeutsche Regionalkunde braucht zu ihrer Rechtfertigung den zentralen Bezug auf das jüdische Leben, wodurch gesichert ist, daß die Vertreibungsgeschichte sich der aktuellen Zivilreligion unterordnet. Kommentatoren geben sich verständnisvoll, warnen aber davor, daß Deutsche sich als Opfer „stilisieren“ – als ob sie sich dazu erst stilisieren müßten! Oder es wird, um die Umwidmung der Gelder zu begründen, die Europäisierung der Erinnerungsarbeit betont, die Orientierung auf die Zukunft, auf Versöhnung und auf das Entstehen eines gemeinsamen Geschichtsbildes, doch gemeint ist immer nur die Fokussierung auf die deutsche Allein- oder zumindest Hauptschuld. Dem knorrigen tschechischen Präsidenten Vaclav Klaus, der aus seiner Abneigung gegenüber den Sudetendeutschen keinen Hehl macht, muß man unter diesen Umständen fast dankbar sein, wenn er den Versöhnungs- und Gesinnungskitsch umstandslos vom Tisch wischt. Wenigstens ist er ehrlich! Diese Feststellung spricht nicht gegen eine europäische Perspektive der Erinnerungsarbeit, ganz im Gegenteil, aber das Ergebnis wird ein ganz anderes sein, als ihre Verkünder es heute glauben. Wo nicht kaltes Kalkül herrscht, handelt es sich um die Nachwirkungen eines Zeitgeistes, der sich zuerst prägnant in der „Ostdenkschrift“ der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) von 1965 äußerte. Sie verlangte den Deutschen die Bereitschaft ab, „die Folgen der Schuld zu tragen und Wiedergutmachung für begangenes Unrecht zu leisten“, denn die Vertreibung sei „Teil eines schweren Unglücks, das das deutsche Volk schuldhaft über sich selbst und andere gebracht hat“. Diese Aussagen nehmen Bezug auf die Festlegung des Potsdamer Abkommens, wonach das deutsche Volk jetzt anfange, „die furchtbaren Verbrechen zu büßen, die unter Leitung derer, welche es zur Zeit ihrer Erfolge oft gebilligt hat und denen es blind gehorcht hat, begangen wurden“. Indem die EKD die Machtpolitik von Potsdam in den Rang einer quasi göttlichen Gerechtigkeit erhob, bereitete sie den Boden für ihre Internalisierung, die auf längere Sicht die Erinnerung blockierte bzw. umformte. Aber es gibt auch einen Gegenstrom, der aus dem Bereich des Privaten zunehmend in die Öffentlichkeit dringt. Die offizielle Ignoranz hat zu einer vermehrten Verschriftung der Erinnerungen geführt. Längst hat auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen begriffen, daß dieses Thema eine hohe Zuschauerquote verspricht, mögen die Sendungen im einzelnen auch miserabel und tendenziös sein. Günter Grass ist mit seiner Novelle „Im Krebsgang“ sogar ein Bestseller gelungen. Darf man von solchem Publikumsinteresse auf einen allgemeinen Phantomschmerz schließen, den die verlorenen Landschaften auslösen? Das wäre übertrieben. Der Phantomschmerz würde ein bestimmtes Maß an historischem Wissen und Empathie voraussetzen, über das nur wenige verfügen. Man sollte daher einige Stufen tiefer steigen. Es geht in vielen Fällen wohl um Abbitte gegenüber der Erlebnisgeneration. Ehemalige politische Stürmer und Dränger, inzwischen selber in die Jahre gekommen, sehen ein, daß sie ihren vertriebenen Eltern oder Großeltern unrecht getan haben. Wahrscheinlich spielt auch ein verändertes Lebensgefühl eine Rolle. Es ist noch nicht lange her, daß der Begriff „Heimat“ sich mit Assoziationen wie: revanchistisch, unmodern, provinziell, vorgestrig verband. Angesagt waren Bindungslosigkeit, Flexibilität, das Bekenntnis zum Postnationalen – kurzum: das „Glücksversprechen der Moderne“. Auf der Basis der sozialen Sicherheit natürlich. Doch der Sozialstaat Deutschland ist vom Wirbelwind der Globalisierung erfaßt worden und viele flexibilisierte Lebensentwürfe mit ihm. Und plötzlich fragen viele danach, was beständig und jenseits von Markt und kollabierendem Staat wohl verbindlich sein könnte. Es dämmert die Ahnung, daß Heimat wohl mehr sein müßte als der Ort, an dem die Geldüberweisungen eintreffen. Der moralische Hochmut und Genuß, den viele Verblendete beim Nachvollzug der deutschen Niederlage verspürten – die verweigerte Erinnerung an den deutschen Osten ist eine besonders drastische Variante -, schmeckt unter diesen Umständen schal, sie wirken in dem Augenblick, da es ernst wird, lähmend. In diesem Zusammenhang hat der mit Emotionen überfrachtete Begriff „Verlorene Heimat“ sechzig Jahre nach Potsdam vielleicht eine Chance, rehabilitiert zu werden. Foto: Ostpreußische Landschaft an der Gilge im gleichnamigen Fischerdorf (heute Matrosowo) am Kurischen Haff: Es dämmert die Ahnung, daß Heimat wohl mehr sein müßte
- Sonderthema