Für die einen ist es nur ein Sommertheater, für die anderen die herbstliche Abschiedsvorstellung der Rechtschreibreform. Nachdem eine Protestwelle nach der anderen während der ersten Jahreshälfte an die Sandburg der Reformer gebrandet war, scheint nun die Zeit für die Politiker gekommen zu sein, dem schon viel zu lange andauernden Spuk ein Ende zu bereiten. Nach Protesten von Schriftstellern, Rechtswissenschaftlern, Elternvertretern und Deutschlehrern sind jetzt die Politiker am Zuge. Acht Jahre nach der überstürzten Einführung an den Schulen, sechs Jahre nach der offiziellen und ein Jahr vor dem geplanten Ende der Übergangszeit melden sich nahezu täglich aus allen Parteien Stimmen, die eine vollständige oder zumindest weitgehende Rücknahme der mißlungenen Rechtschreibreform fordern. Dieser großen Koalition gehören unter anderen die Bundestagsvizepräsidenten Antje Vollmer (Grüne) und Norbert Lammert (CDU) an. Mit der Kulturstaatsministerin Christina Weiss (parteilos) hat sich jetzt erstmals auch ein Mitglied der Bundesregierung für Änderungen an der Reform ausgesprochen. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hatte zwar bereits Verständnis für den Wunsch nach dem Ende der Reform geäußert, will sich aber nicht einmischen: „Das ist bei den Ländern und bleibt bei den Ländern – inklusive des Schwarzen Peters in dieser Sache.“ In dieser wachsenden Politikerfront gegen die Schreibreform befinden sich freilich auch Trittbrettfahrer. Die Liberalen fassen die Debatte offenbar wirklich nur als Sommertheater auf, mit dem sich volkstümliche, aber utopische Forderungen verbinden lassen. Die Vorsitzende des Bildungsausschusses im Bundestag, Ulrike Flach (FDP), forderte zwar erneut die Rücknahme der Reform, ließ aber dem verdutzten Erlanger Reformkritiker und Germanisten Theodor Ickler ausrichten, daß „die Vorgänge nur mit dem Begriff ‚Sommerloch‘ zu bezeichnen“ seien. Als von noch geringerer Bedeutung ist der Vorschlag der FDP-Generalsekretärin Cornelia Pieper zu werten, eine Volksabstimmung zur Rechtschreibreform abzuhalten. In einem Land, in dem die Bürger noch nicht einmal über ihre Verfassung abstimmen dürfen, muß dieser Vorstoß ins Leere gehen. Abgesehen davon bedarf es keiner Abstimmung mehr, da der Wille des Volkes seit langem eindeutig ist. So gibt es laut der jüngsten Allensbach-Umfrage nur 13 Prozent Reformbefürworter. Daß es sich jedoch um kein Sommergeplänkel handelt, dafür spricht, daß an einer handfesten politischen Lösung gearbeitet wird. Den Einfall, die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) einzuschalten, hatte Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU). Er hatte sein Erweckungserlebnis in der Unterhaltungssendung eines privaten Fernsehsenders. RTL hatte Ende Mai zum „Großen Deutschtest“ aufgerufen, an dem sich 50.000 der acht Millionen Zuschauer beteiligten. Anders als es derzeit noch die Schulen handhaben, ließ RTL ausschließlich die Reformregeln zu. Wulff, ebenfalls Deutschtestteilnehmer, war von den Ergebnissen entsetzt: „Das Ausmaß der Fehlerquoten war unendlich. Dieses Erlebnis hat mich noch einmal zu einer intensiveren Beschäftigung mit der neuen Rechtschreibung geführt“, erzählte er der FAZ. Die Rechtschreibreform sei gescheitert: „Wir reden über ein Kind, das im Brunnen liegt, und die Wiederbelebungsversuche sind aussichtslos.“ Wulff schlägt vor, daß die MPK den Kultusministern die Verantwortung für die Rechtschreibreform entziehen möge und erhält dafür Unterstützung von Saarlands Ministerpräsident Peter Müller, der im September eine Landtagswahl gewinnen will. Bayerns Regierungschef Edmund Stoiber setzte als derzeitiger Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz das Thema auf die Tagesordnung der nächsten Zusammenkunft Anfang Oktober. Der CSU-Vorsitzende brüskierte damit seine Kultusministerin Monika Hohlmeier, die Stoiber gerne im Amte nachfolgen würde. Doch die hat derzeit nicht nur unter der Verurteilung ihres Bruders Max Strauß wegen Steuerhinterziehung zu leiden, sondern ist auch in eine Affäre der Münchner CSU verstrickt. Sie soll von Stimmenkauf für die Mehrheitsbeschaffung in Parteigremien gewußt haben. Es wird vermutet, daß Stoiber seine Ministerin nun loswerden will und zu keinen Rücksichtnahmen bereit ist. Stoiber hat erkannt: „Klarheit bei der deutschen Sprache ist Kern unserer kulturellen Identität. Mit der Rechtschreibreform ist erhebliche Unsicherheit eingetreten.“ Die Lösung mit Hilfe der MPK hat nur einen Schönheitsfehler: Die Ministerpräsidenten müssen einstimmig entscheiden, und es sind noch längst nicht alle überzeugt. Auch Hessens Ministerpräsident Roland Koch ziert sich, obwohl er als „junger Wilder“ der CDU die Reform eindeutig abgelehnt hatte. Seine Haltung wird vielleicht dadurch beeinflußt, daß sein Vorgänger als CDU-Landeschef, Manfred Kanther, als Bundesinnenminister maßgeblich an der Durchsetzung der Rechtschreibreform beteiligt war. Brandenburg hat sich noch nicht festgelegt, obwohl Innenminister Jörg Schönbohm erklärte: „Diese Reform ist eine üble technokratische Kopfgeburt. Wir müssen wieder zur alten Schreibweise zurück.“ Je nachdem wie groß die Hausmacht des jeweiligen Kultusministers ist, tun sich die Ministerpräsidenten mehr oder weniger schwer, sich gegen ihre Minister und die dahinterstehende Bürokratie durchzusetzen. In Rheinland-Pfalz (Doris Ahnen) und Baden-Württemberg (Annette Schavan) sind die Kultusminister besonders stark. Es wäre ein gutes Zeichen für unser Land, wenn Politiker einen Fehler zugäben und ihn mutig rückgängig machten, statt ihn weiter zu verschlimmbessern. Die Ministerpräsidenten sollten sich nicht von den „Rauchbomben“ (Peter von Matt) der Schulbuchverleger beeindrucken lassen. Sie sprechen von Rücknahmekosten in Höhe von 250 Millionen Euro. Niemand verlangt jedoch, daß die Schulbücher von einem Tag auf den anderen ausgetauscht werden müssen. Außerdem sind das bestehende Schreibwirrwarr und das ständige Nachbessern der Reform teurer, als wenn jetzt ein Schnitt gemacht würde. Vor fünf Jahren, am 1. August 1999, stellten die Nachrichtenagenturen und die meisten Zeitungen auf eine Fassung der Rechtschreibreform um oder begründeten eigene Hausorthographien nach dem Vorbild der Reform. Nach fünf Jahren, in denen die Leser genug gequält worden sind, ist es an der Zeit, daß die großen Zeitungsverlage das Abenteuer Rechtschreibreform beenden und auf diese Weise den Ministerpräsidenten die Entscheidung über das Ende der Reform erleichtern. Es könnte schon bald soweit sein.