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Wie „heilig“ ist die „Heilige Nacht“?

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Wie „heilig“ ist die „Heilige Nacht“?

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Weihnachts-Abo, Weihnachtsbaum, Zeitungen

Jedes Jahr sind vor dem Weihnachtsfest die immer gleichen Abläufe zu beoachten: verstopfte Innenstädte, gestreßte Gesichter, umherhastende Gestalten auf der Jagd nach fehlenden Weihnachtsgeschenken. Nichts ist davon zu spüren, daß die Vorweihnachtszeit eigentlich eine Zeit der Stille und der Einkehr sein sollte, mit der sich der Christ auf eines der Hauptfeste der christlichen Kirche vorbereitet: das Fest der Geburt Jesu, das in Deutschland immer noch das volkstümlichste aller christlichen Feste ist. Was aber ist von diesem Fest mehr übriggeblieben als eine Art Umverteilungsveranstaltung, als ein Abarbeiten von Geschenklisten? Sind diese abgearbeitet, treten die leiblichen Bedürfnisse ins Visier. Weihnachten ist auch das Fest der Braten, der Völlerei, des Sich-gut-gehen-Lassens nach dem Motto: Man gönnt sich ja sonst nichts. Das Weihnachtsfest ist, um es auf den Punkt zu bringen, das Fest der totalen Mobilmachung von Verbrauchern und Anbietern im wiedervereinigten Deutschland.

Der transzendente Kern dieses Festes muß erst wieder freigelegt werden. Darüber können auch die an den bevorstehenden Feiertagen häufiger als sonst besuchten Kirchen nicht hinwegtäuschen. Der Befund läßt sich verallgemeinern: Religiöse Rituale haben in Deutschland kaum noch Bedeutung. Wenn das Einhalten besonderer Zeiten wie zum Beispiel der Weihnachtszeit die geheiligten Werte eines Religionssystems verkörpert und wenn diese anzeigen, was innerhalb eines gegebenen Systems für grundlegend und unerklärlich gehalten wird, dann wird man feststellen müssen, daß der christliche Glaube in Deutschland bestenfalls noch ein Schattendasein führt.

"Unser zutiefst unreligiöses und unrituelles Volk nimmt Gedenktage nicht mehr ernst", merkte der Schriftsteller Botho Strauß trocken in seinem Buch "Die Fehler des Kopisten" an. Wo Überlieferung nichts mehr bedeute, so Strauß weiter, werde auch Erinnerung, im Sinne von Realpräsenz, Vergegenwärtigung, nicht möglich sein. Strauß schlußfolgert deswegen: "Unsere Gedenktage sind Freizeit." Die Vorbereitung auf die "Stille", die "Heilige Nacht" ist längst krämerhafter Geschäftigkeit gewichen. Kommt diese kraft Feiertag endlich einmal zum Erliegen, setzt sich die Blechlawine in Richtung Süden in Gang.

Oder die Charterflugzeuge in Richtung alle Welt. Auch dort versteht der postmoderne Deutsche inzwischen vortrefflich "Weihnachten" bzw. das, wofür er dieses Fest hält, zu feiern. Den neudeutschen Nomaden sind Zeit und Ort für ihre Zerstreuung – denn viel mehr ist auch Weihnachten inzwischen nicht mehr – gleichgültig geworden. Für die notwendige "Stimmung" sorgt notfalls das Fernsehen, das "all over the world" per Knopfdruck irgendwelche Kinderchöre oder weißbärtige Männer im vorgerückten Alter mit sonorer Stimme bietet, die auch auf Mallorca oder anderswo ein wenig Seligkeitsidiotentum verbreiten.

"Heilige Nacht": Die wenigsten Zeitgenossen dürften noch eine Vorstellung davon haben, was es mit der Qualifikation "heilig" eigentlich auf sich hat. Die wohl überzeugendste Beschreibung vom Charakter des "Heiligen" hat bis auf den heutigen Tag der 1937 verstorbene Religionswissenschaftler Rudolf Otto geliefert, der herausstellte, daß "das Heilige" den Menschen seiner Nichtigkeit angesichts eines begrifflich nicht faßbaren "Übermächtigen" bewußt mache. Dieses Gefühl der Ohnmacht gegenüber einem als "Offenbarung" erlebten Göttlichen nennt Otto das "Kreaturgefühl". Die "Kreatur", der Mensch, wird sich angesichts des "Heiligen" seiner "Geschöpflichkeit" bewußt. "Das Heilige" sieht Otto in zweifacher Art und Weise wirken: einmal als Tremendum, das den Menschen erzittern läßt. Dann als als Faszinosum, das den Menschen mit einem Gefühl der Liebe, der Hoffnung und des Glücks erfüllt.

Liebe, Hoffnung und Glück: Das eindrücklichste Beispiel für die Bedeutung dieser Trias im Leben eines Gläubigen fand der Verfasser in einem Feldpostbrief eines im September 1915 vor Ypern gefallenen deutschen Theologiestudenten: "Was mich gefaßt und ruhig in die Zukunft blicken läßt", schrieb dieser damals 20jährige Student elf Tage vor seinem Tod, "ist die Überzeugung, daß in allem und jedem Schicksal Gott schafft und daß auch das kleinste Weltgeschehen dazu bedacht und bestimmt ist, dem Endziele der Menschheit, dem Reiche Gottes zu dienen. Dieser einfache Glaube verleiht Kraft, Leidens- und Weltüberwindung, da der Weg der Menschheit nicht zur Finsternis, sondern zum Licht führt."

Die Geburt Jesu markiert den Anbruch des Reiches Gottes. Das Faszinosum, dessen wir Weihnachten eingedenk sind, ist das Mysterium der Menschwerdung Gottes. Ein Mysterium stellt ein Geheimnis im Sinne des Fremdartigen, Unverstandenen, Unerklärten dar. Das Ereignis der Menschwerdung Gottes ist der Einbruch des "ganz Anderen" in die Lebenswelt des Menschen, der sich seiner Geschöpflichkeit, seiner Ohnmacht gegenüber der Übermacht des Göttlichen bewußt wird. Der subjektive Reflex, den dieses Ohnmachtsgefühl auslöst, lautet Demut. Demut – ein Begriff, der in unser exhibitionistischen, aufgeklärt-abgeklärten Spaßgesellschaft wie ein Anachronismus wirkt. Demut – ein Begriff, der in unserer devotionsfeindlichen Kultur längst keinen Raum mehr hat. Eine Kultur, die, um es mit Botho Strauß zu sagen, von "unzähligen Spöttern, Atheisten und frivolen Insurgenten" übervölkert ist, "die eine eigene bigotte Frömmigkeit des Politischen, des Kritischen und All-Bestreitbaren geschaffen haben".

In einer derartigen Kultur hat es wirkliche Religiosität schwer. Denn wenn Religion ein System ist, das durch das Heilige begründet ist, dann bedeutet Religiosität das Festhalten an dem, was heilig ist. Wo aber alles in Frage gestellt ist, muß auch die Religiosität zwangsläufig schwinden. Vielen dürfte nicht klar sein, was wir hier zu verlieren haben. Denn wie man in der Zeit lebt, ist gleichbedeutend damit, wie man in der Welt lebt. Religiösen Ritualen wie dem christlichen Weihnachtsfest kommen weltstrukturierende und weltausdrückende Funktionen zu. Religiöse Rituale sind eine bewußte Strukturierung von Zeit und Handeln, mit dem Ziel, einer andernfalls ziellosen oder profanen Lebensführung Richtung, Ausdruck und Heiligkeit zu geben. Das Gegenteil von ritualisierter Zeit sind Zerstreuung und Beliebigkeit, die nicht von ungefähr zentrale Kennzeichen unserer Zeit sind.

Das Weihnachtsfest ist demgegenüber gerade nicht eine Zeit der Zerstreuung, der Freizeit, sondern ein Ritual, das eine erhöhte und erweiterte Wahrnehmung der Geburt des Sohnes Gottes zum Ausdruck bringt, die feierlich begangen wird. Darauf sollten wir die Gedanken und die Konzentration dieser Tage richten.

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