Kalte zwei Grad zeigt die Wetter-App an diesem Samstag nachmittag auf dem Handy an. Erst Schneeregen, dann weht den Menschenmassen vor dem Brandenburger Tor auf einmal ein eisiger Schneeschauer direkt in die zugekniffenen Gesichter. Über ihren Köpfen tänzeln blaue Fahnen, soweit das Auge reicht. Den Stoff ziert die ikonische Friedenstaube. Langsam wird es übervoll. „Schon über 50.000 Menschen haben ihren Weg zu uns gefunden“, rufen begeisterte Veranstalter von der Bühne, hinter der sich stoisch die Quadriga erhebt. Nach Polizeiangaben waren es 13.000 Teilnehmer.
Kalte zwei Grad – damit ist es kälter als in den beiden ukrainischen Städten Donezk und Luhansk, die sich mitten im umkämpften Donbass im Osten des Landes befinden. Das digitale Thermometer zeigt jeweils vier Grad und Regen an. Mit den steigenden Temperaturen werden sich auch die Gefechte um das industrielle Herz der Ukraine wieder verschärfen – eine Aussicht, die im etwa 2.000 Kilometer entfernten Berlin viele Menschen auf die Straße treibt.
„Frieden schaffen, ohne Waffen“ und „Baerbock muß weg“
Schon während der U-Bahnfahrt zum Ort des Geschehens hört man lange Monologe über den Profit, den die Vereinigten Staaten angeblich aus den Waffenlieferungen schlagen würden. „Die Ukraine least all diese Gerätschaften nur. In Washington läßt man sich die Hilfe schön bezahlen“, erklärt ein älterer Herr mit Schiebermütze seinem Sitznachbarn. Vor dem Brandenburger Tor ist die Stimmung ähnlich. „Es ist traurig zu sehen, wie bequem viele Menschen nach wie vor sind, obwohl wir in eine riesengroße Gefahr hineinlaufen“, mahnt beispielsweise der 77jährige Alexander Malmann aus Hamburg.
Um bei der Großkundgebung dabei zu sein, ist der Pensionär eigens aus der Hansestadt angereist. Sein Transparent spricht für sich. „Deutsche Waffen, deutsches Geld, morden mit in aller Welt“ – eine Losung, mit der die Grünen in den 90er Jahren Wahlkampf gemacht haben. Heute fällt die Parole gleichsam auf die Partei zurück.
Auch Heide Götz aus Thüringen ist extra nach Berlin gefahren, um mit zu demonstrieren. Die Botschaft auf ihrem Schild ist denkbar einfach: „Die Waffen nieder!“ Zwei Damen, die etwas abseits stehen, outen sich im Gespräch als Dauerdemonstranten. „Wir kommen schon seit Jahren her und waren schon hier, als es um Corona ging“, berichten sie. Dieselben Leute, die damals vehement für die Impfung geworben hätten, seien nun für Waffenlieferungen an die Ukraine.
50.000 Menschen auf der #Friedenskundgebung #AufstandFuerFrieden in Berlin am Brandenburger Tor! #b2502 pic.twitter.com/lB5NZYruWX
— Sevim Dağdelen, MdB (@SevimDagdelen) February 25, 2023
Die Ausführungen werden immer wieder von Parolen übertönt. Die beliebteste ist zweifellos „Frieden schaffen ohne Waffen“. Aber auch „Baerbock muß weg“ erweist sich als Dauerbrenner. Als die Veranstalter die Demo-Auflagen verlesen, wird indes ein lautes Zischen laut. Der Grund: Neben dem Tragen von Uniformen ist das Zeigen von Symbolen der ehemaligen Sowjetunion verboten, da sie als Rechtfertigung des russischen Einmarsches in der Ukraine gewertet werden könnten.
Mehr muss man über die Abgründe dieser Demo und ihrer Teilnehmer*innen gar nicht wissen, als die Reaktion der Masse auf die Verlesung der geltenden Einschränkungen. Was für eine Niedertracht! #b2502 pic.twitter.com/tAWUNpVurQ
— Benjamin Bauer (@beolba) February 25, 2023
Die Angst vor dem Atompilz über Berlin
Unter „Sahra!“-Rufen tritt schließlich die lang erwartete Linken-Politikerin Wagenknecht selbst ans Mikrophon vor dem Brandenburger Tor. Applaus brandet auf. „Heute kann man sehen, wie viele Menschen wir in Wirklichkeit sind“, freut sie sich beim Anblick der Menge. „Was Deutschland braucht, ist eine Friedensbewegung“, stellt sie klar. Fast jeder ihrer Sätze wird mit Pfiffen, Klatschen und Losungen begrüßt. „Das hysterische Gebrüll, mit dem man uns als ‚Putinfreunde‘ und ‚rechtsoffen‘ diffamiert hat, zeigt nur, daß sie Angst vor uns haben“, unterstreicht sie. „Es nervt mich, auf welchem Niveau wir in Deutschland diskutieren. Seit wann ist Frieden rechts? Da scheinen Einige wohl ihren politischen Kompaß verloren zu haben.“
Sie sei in der Angst vor einem Atompilz über Berlin aufgewachsen, erläutert Wagenknecht weiter. Wegen dieser Angst habe sie auch zum „Aufstand für den Frieden“ aufgerufen. Außer ihr und Alice Schwarzer redet auch der einstige Sicherheitsberater von Altkanzlerin Angela Merkel, Brigadegeneral a.D. Erich Vad. „Die derzeitigen Waffenlieferungen sind im Grunde Militarismus pur, weil man sie an keine politische Strategie knüpft“, warnt der Militär. Er wundere sich, weshalb Friedensinitiativen aus Brasilien und China kämen, aber nicht aus der EU.
Etwas abseits der Kundgebung liefern sich die Gegner weiterer Waffenlieferungen unterdessen hitzige Wortgefechte mit Ukraine-Unterstützern. Das zum Jahrestag des Kriegsbeginns vor der russischen Botschaft als Mahnung aufgestellte Wrack eines Panzers, der bei der Schlacht um Kiew zerstört worden sein soll, wird dabei zum Kulminationspunkt der symbolischen Auseinandersetzung.
Der T-72 ist sowohl mit roten Nelken als auch mit Bändern in den Farben der ukrainischen Nationalflagge geschmückt. Außer „kleineren Tumulten“ hat die Berliner Polizei am Ende allerdings keine Reibereien verzeichnet. Etwa 1.400 Beamte seien vor Ort gewesen, um die Lage zu überwachen, so die Polizei.
Frieden – ein Thema für die Linkspartei?
Der „Aufstand für den Frieden“ könnte tatsächlich zur Initialzündung einer neuen Friedensbewegung in Deutschland werden. Ob die Linkspartei diese indes für sich vereinnahmen können wird, darf bezweifelt werden. Weder der Parteivorstand unter Martin Schirdewan und Janine Wissler noch zahlreiche Landesverbände und Parteigliederungen wollten sich zuletzt mit dem Projekt der Großkundgebung solidarisieren.
Dabei ist die Sorge um den Frieden in Europa offenbar genauso massentauglich, wie zuletzt der Kampf um Bürgerrechte während der Corona-Krise. Daß der Protest gegen Waffenlieferungen pauschal mit AfD-Sympathien assoziiert wird, zeigt möglicherweise, daß die Linke dieses Feld bereits an ihre Konkurrenten von rechts verloren haben könnte. Die AfD-Spitze selbst hatte zwei Tage zuvor ihre Teilnahme an der Wagenknecht-Demo abgesagt.
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Putin-Biograf und Rußlandexperte, Dr. Thomas Fasbender, warnt in einem Interview vor der russischen Botschaft: Europa steht vor düsteren Zeiten. Deutschland ist im Zentrum globaler Machtkämpfe und der Ukrainekrieg droht das Land zu zerreiben. Wie wird dieser Krieg für alle Akteure enden? Antworten gibt es im vollständigen Interview mit Chefredakteur Dieter Stein.
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