Deutschland ist eine Republik, der Bundestag ist nicht das House of Commons, und deswegen ist Alexander Gauland auch „nur“ der Co-Vorsitzende der größten Nichtregierungsfraktion und nicht Leader of Her Majesty’s Most Loyal Opposition. Ob die Anglophilie des AfD-Politikers mit der längst zum Markenzeichen gewordenen Vorliebe für Harris-Tweed und die wohl berühmteste Krawatte des Landes so weit geht, diesen Titel zu missen, ist nicht überliefert – und zudem eher unwahrscheinlich.
Was Gauland indes ist: ein Überlebender. Der einzige Ex-Vorsitzende, der nach seiner Amtszeit noch Mitglied in der AfD ist – und sogar zum ersten Ehrenvorsitzenden gewählt wurde. Seine Vorgänger, Bernd Lucke und Frauke Petry, traten ab und gingen. Als Geschlagene und Enttäuschte, unterlegen in jeweils heftigen Macht- und Richtungskämpfen. Betrachtet man das Podium jener fast schon legendären ersten öffentlichen Veranstaltung der Alternative für Deutschland am 11. März 2013 in Oberursel, so ist neben Gauland nur noch Beatrix von Storch dabei.
Wie Lucke gingen auch die anderen Mitgründer Joachim Starbatty und Konrad Adam. Nicht so Gauland. Der Lotse blieb an Bord – vielleicht ein Bild, das dem erklärten Bismarck-Verehrer gefallen und schmeicheln würde. Doch ein Lotse ist jemand, der klare Steuerbefehle erteilt. Nicht so Gauland. Und das wiederum ist einer der Gründe für sein politisches Überleben in herausgehobener Stellung des „gärigen Haufens“ (Gauland über die AfD).
Nach Gaulands Überzeugung – und vor allem: Erfahrung – funktioniert Führung in der AfD nur in homöopathischen Dosen. Seine Autorität beruhe in erster Linie darauf, daß er sie selten einsetze, gab er einmal zu. Zumindest nach außen gleicht der Führungsstil Gaulands dem einer guten Kindergarten-Tante: voller Nachsicht für die aufmüpfige Rasselbande. „Die Partei ist genau richtig, und ihr seid richtig“, rief der „Grandsignieur der AfD“ seinen Parteifreunden Ende 2019 in Braunschweig zu, als die ihn mit über 90 Prozent zum Ehrenvorsitzenden wählten.
Wollten Lucke und Petry im Alleingang und ohne ausreichende Mehrheiten zu organisieren der Partei ihre Richtung vorgeben – und scheiterten –, bevorzugt Gauland die lockeren Zügel. Nur selten griff er dem basisdemokratischen Treiben in die Speichen. Mal sehr vehement, etwa als beim Parteitag 2017 in Hannover ein Mitglied mit verschwiegener NPD-Vergangenheit für ein Vorstandsamt kandidieren wollte; mal eher unterschwellig, etwa als es ihm unter Verweis auf Bismarcks Realpolitik gelang, die Forderung nach einem Nato-Austritt aus dem AfD-Programm herauszuhalten.
Emissär in die linke Kulturszene
Ihn schneidend oder gar laut zu erleben, bleibt engen Mitarbeitern oder Parteifreunden im kleineren Kreis vorbehalten. Anders ergeht es Journalisten, ungeachtet ihrer politischen Provenienz. Wer ihn fragt, bekommt eine Antwort. Schnippische Interview-Abbrüche sind seine Sache nicht. Gauland kennt sowohl politischen Betrieb als auch das Mediengeschäft aus dem Effeff.
Nach dem Abitur 1959 im damaligen Karl-Marx-Stadt und anschließender Flucht aus der DDR, ging der in Marburg 1970 mit einer Arbeit zum „Legitimitätsprinzip in der Staatenpraxis seit dem Wiener Kongreß“ zum Dr. jur. Promovierte ins Presse- und Informationsamt der Bundesregierung in Bonn und wurde 1974 Presseattaché am Generalkonsulat in Edinburgh. Ab 1977 fungierte er als Büroleiter des neu gewählten Frankfurter Oberbürgermeisters Walter Wallmann (CDU).
Als dieser im Juni 1986 zum ersten Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit berufen wurde, baute Gauland die Zentralabteilung des neu geschaffenen Ressorts mit auf. An Wallmanns Seite blieb er, als der 1987 hessischer Ministerpräsident wurde. Bis zur Wahlniederlage 1991 leitete Gauland die Staatskanzlei in Wiesbaden. Er lieferte das Vorbild für die Romanfigur „Tronkenburg“ in Martin Walsers Roman „Finks Krieg“.
Aus seiner Zeit als Magistratsdirektor in Frankfurt am Main rühren Gaulands Begegnungen mit der linken Kulturszene. Es sei eben seine Aufgabe gewesen, dieses Terrain für seinen Chef, den Oberbürgermeister von der CDU, zu erschließen, sozusagen diplomatische Beziehungen aufzubauen. Aus dieser Zeit rühren persönliche Freundschaften; nicht alle haben Gaulands parteipolitischen Wandel überlebt.
Vietnamesische Boat People nach Frankfurt geholt
In die Frankfurter Zeit fällt auch die damals „umstrittene“ Verleihung des renommierten Goethe-Preises an Ernst Jünger im August 1982. Gauland, Autor des Wallmannschen Grußworts, erlebt hautnah die heftigen politischen Auseinandersetzungen darüber im Römer, dem Stadtparlament. Dort brachen die Grünen eine Kampagne gegen den Schriftsteller vom Zaun („… unbestritten ein ideologischer Wegbereiter des Faschismus und ein Träger des Nationalsozialismus von Kopf bis Fuß. Ein Kriegsverherrlicher und erklärter Feind der Demokratie … ein durch und durch unmoralischer Mensch“) – und wurden dafür ausgerechnet in der linksalternativen taz heftig angegangen. Plaudert Gauland über diese Zeit, dann blüht er beim Erzählen regelrecht auf.
Mit einer ganz anderen diplomatischen Mission betraute Wallmann seinen Mitarbeiter 1979. Da mußte Gauland in die damalige britische Kronkolonie Hongkong fliegen, um in einem Lager für sogenannte Boatpeople, die aus dem kommunistisch regierten Vietnam geflüchtet waren, 250 Personen auszusuchen, die in der Mainmetropole eine neue Heimat bekommen sollten. „Es war ja meine Aufgabe, die vietnamesischen Flüchtlinge auch so auszuwählen, daß sie in eine Metropole wie Frankfurt passen und sich nicht zu sehr umgewöhnen müssen“, erläuterte Gauland in der JUNGEN FREIHEIT den Zweck der Mission.
Nicht selten mit einer gewissen Häme erwähnen politische Gegner von heute seine damalige Rolle als Flüchtlingshelfer. Genauso wie die Unterschrift, die Gauland 1993 unter einen Aufruf für eine „offene und tolerante Gesellschaft“ sowie eine „pragmatische und humane Einwanderungspolitik“ in der Frankfurter Rundschau geleistet hatte. „Es war ja eine völlig andere Ausgangslage“, sagte er rückblickend „Es gab damals keine Masseneinwanderung aus islamischen Ländern, die mit der von heute vergleichbar wäre.“
Warnung vor „falschem Konservativismus“
Doch Wandel und „Häutungen“ in seinen Ansichten sind nicht zu leugnen. Und sie irritieren bis heute auch solche Wegbegleiter, die ihm weit weniger polemisch gegenübertreten. Gauland schrieb in den Achtzigern für Caspar von Schrenck-Notzings Criticón genauso wie für Daniel Cohn-Bendits Pflasterstrand. Und er veröffentlicht 1991 seine „Streitschrift gegen die falschen deutschen Traditionen“ ausgerechnet im linken Eichborn-Verlag.
Manches von dem, was er darin unmittelbar nach der Wiedervereinigung schrieb, klingt wie eine Antithese zum heutigen AfD-„Mainstream“, vor allem dem im Osten der Republik. Der Alexander Gauland des Jahres 1991 hatte noch heftig gegen „Deutschtümelei“ und „Sonderwege“ polemisiert: „Dem politischen Bankrott ging der geistige voraus. Lange vor fem verlorenen Weltkrieg hatte sich ein Teil der bürgerlichen Intelligenz auf den ‘deutschten Sonderweg’ begeben und den Ideen von 1688, 1776 und 1789 den Kampf angesagt. Man war antibürgerlich. Antiindividualistisch, antiwestlich und antizivilisatorisch“.
Seiner Meinung nach müsse konservative Politik „an der Konstante der deutschen Nachkriegsentwicklung festhalten, die unser Interesse am besten in einer engen Verbindung mit den westlichen Demokratien gewahrt sah“. Der Erfolg der bundesdeutschen Politik beruhe darauf, daß sie „allen Versuchen, Deutschland aus ideologischem Gründen vom Westen zu trennen, widerstanden hat“. Der Hymnus auf die Westbindung – und die Partei der „Rußland-Versteher“…?
Gaulands Loblied auf die Bonner Republik ging noch weiter: „Zum ersten Mal hat sich in Deutschland eine zivile bürgerliche Gesellschaft gebildet, hat Deutschland Abschied genommen vom lutherischen Gemeinschaftsideal. Das erste Mal haben die Deutschen ein gesellschaftliches Mindestmaß an Toleranz ausgebildet; zum ersten Mal hat auch eine politische Klasse in Deutschland pragmatischen Realismus als Tugend begriffen.“ Der „falsche Konservativismus“ habe „in den westlichen Demokratien etwas ’Undeutsches’“ gesehen. „Nach 1870 ging in Deutschland der Konservatismus mit dem Nationalismus jene unheilige Allianz ein, die ihn schließlich in die Harzburg Front führte.“ Ob man diesem Satz des damals 50jährigen Autors Jahrzehnte später auf dem Kyffhäuser mit Applaus zugestimmt hätte?
Fürsprecher östlich geprägter Neu-Bundesbürger
Und trifft nicht auf Thüringens AfD-Vorsitzenden Björn Höcke, den der Gauland heutiger Tag als „leidenschaftlich unser Deutschland liebenden Nationalromantiker“ gegen Rechtsradikalismus-Vorwürfe in Schutz nimmt, zu, was der Gauland des Jahres 1991 als fatalen Irrweg ausmachte? Nämlich: Die „Neigung zu Träumereien und verschwommene Gefühlslagen begünstigen die Abwendung vom Westen und den fatalen Glauben an eine deutsche kulturelle Mission, an die Brückenfunktion zwischen Ost und West.“ Daß Gauland am Schluß seiner Schrift auch noch für ein Tempolimit plädiert („Es ist nicht genug, das werdende Leben im Mutterleib zu schützen, wenn auf unseren Straßen jährlich Tausende sterben, die bei Einführung einer Geschwindigkeitsbegrenzung leben könnten“) und „grüne Themen“ zu konservativen erklärt, dürfte viele seiner heutigen Parteifreunde in der AfD sicher überraschen.
Im Februar 1989 würdigte Gauland in einem einfühlsamen Porträt für Criticón den britischen Staatsmann Robert Stewart Lord Castlereagh (1769–1822), einen „dem Wutgeheul der Zeitgenossen und der Verachtung der Nachwelt“ Preisgegebenen. Und der Autor kommt zu dem Schluß, daß mit Castlereagh „das letzte Bindeglied zwischen Großbritannien und dem Kontinent“ schwand. England sei danach „zu seiner insularen Tradition der Aufrechterhaltung des europäischen Gleichgewichts ohne Beteiligung an der Ordnung des europäischen Festlands“ zurückgekehrt.
Die „Spaltung zwischen den liberalen Westmächten und den konservativen Ostmächten“ sei zum Kennzeichen der folgenden Epoche geworden. Gauland bedauerte offensichtlich, daß Castlereagh „bis zum heutigen Tage in seinem Lande unverstanden“ blieb. „Erst zwei Weltkriege und das Ende des Empires haben England gelehrt, daß es sich von den europäischen Dingen nicht abseits halten kann.“ Ob der Verfasser solcher Thesen dem Oppositionspolitiker des Jahres 2020 zugestimmt hätte, der angesichts des Brexit meinte: „Großbritannien hat nun seine volle Souveränität zurückerlangt“?
Nach dem Machtwechsel zu Rot-Grün in Hessen wechselt der Staatssekretär außer Dienst von Wiesbaden nach Potsdam und wird Herausgeber der Märkischen Allgemeinen Zeitung. Aus dem eingefleischten Westler wird ein Beobachter und Fürsprecher der östlich geprägten Neu-Bundesbürger. Die Neigung zum Sozialpaternalismus, lange Zeit verkörpert von der Brandenburger Sozialministerin Regine Hildebrandt (SPD), habe ihre Wurzeln in der Tatsache, daß Brandenburg „keine bürgerliche Geschichte und also auch keine bürgerliche Tradition“ hatte, schrieb Gauland 2011 in einem Beitrag für den Tagesspiegel.
Der entsprechende Politikansatz sei also keine lebensverlängernde Maßnahme für eine „kleine DDR“, sondern ein Rückgriff auf ältere Traditionen, die Vereinigung „konservativer und sozialer Elemente“. Wer das liest, den überrascht nicht, daß Gauland den Ansatz eines „solidarischen Patriotismus“ für die AfD, vor allem in ihren Hochburgen im Osten, für naheliegender hält. Das Reservoir der zuvor nicht-wählenden Unzufriedenen ist größer als das der enttäuschten FDP-Anhänger.
Erfolgsgeheimnis: kein Rechthaber zu sein
Die und ehemalige Christdemokraten wie Gauland waren die Keimzelle der Alternative für Deutschland, zu deren Mitbegündern er vor acht Jahren gehörte. Als einer, der das Scheitern des konservativen Berliner Kreises in der CDU hautnah errlebt hatte. Deren Generalsekretär Hermann Gröhe habe offen gesagt, „wir sollten uns bloß nicht einbilden, je in irgendeiner Form anerkannt zu werden. Damals sagte ich mir: Gut, dann gehe ich eben“, resümierte der so – mit schlechtem Essen und ohne Wein – im Adenauerhaus Abgespeiste später.
Dennoch bestreitet Gauland immer wieder, daß Rache an der CDU der Grund dafür gewesen sei, warum er – längst Senior – mit reichlich Erfahrung als Strippenzieher noch einmal in die vordere Reihe des politischen Kampfes einstieg. Wirtschaftliche Gründe, wie mittlerweile bei manchem im „Geschäftsmodell AfD“, können es auch nicht sein.
Er sei kein Rechthaber, das unterscheide ihn „von den meisten sendungsbewußten, gebildeten, alten Männern, die die Partei zu Beginn geprägt“ hätten, ist der Journalist und Gauland-Biograph Olaf Sundermeyer überzeugt. Das sei sein Erfolgs- und politisches Überlebensgeheimnis. Gaulands Nimbus führt der AfD jedoch eine klaffende Leerstelle vor Augen. Er ist – manche innerparteilichen Kritiker meinen: er war – die einzige Integrationsfigur. Erkennbar wird dies auch in der Bundestagsfraktion. Dort meldeten sich zwar in jüngster Zeit vermehrt kritische Stimmen zu Wort, die fehlende Führung monierten; allerdings bleibt ein großes Fragezeichen, wenn es darum geht, wer anstelle des Tweed-Trägers die Rolle dessen übernehmen könnte, der gleichermaßen Autorität ausstrahlt und integrierend wirkt.
Sein Trauma ist die Spaltung der Partei
Wohl auch deswegen hat Gauland jüngst angekündigt, noch einmal für den Bundestag zu kandidieren. Die AfD soll aus der deutschen Politik nicht mehr wegzudenken sein, das bleibt eines seiner Ziele. Und keine der führenden Persönlichkeiten der Partei verfügt wie Gauland über solch übergreifenden Rückhalt. Der allerdings bei nicht wenigen geschwunden ist. Sie verübeln ihm die Frontstellung zu seinem ehemaligen Teampartner Meuthen, dem Gauland wiederum vorwirft, er verprelle 50 Prozent der Partei.
Meuthens Trauma – und das seiner Anhänger, vor allem in den westlichen Landesverbänden – ist die drohende Beobachtung der Gesamt-AfD durch den Verfassungsschutz. Gaulands Trauma ist die „Spaltung“ der Partei. Er will die Einheit, die Parlaments- wie die Bewegungspartei. Menschen aus der bürgerlichen Mitte sollen genauso wie die „kleinen Leute“, die elitenfeindlichen Empörten unter dem blauen Dach eine politische Heimstatt finden. So wäre es ihm am liebsten. Daß dies funktioniert, bezweifeln nicht wenige.
Gehe es der AfD gut, spiegele sich das auch in Gaulands Stimmung und Gesundheit wider, meinte einmal jemand, der ihm nahestand. Der aktuelle Zustand der Partei soll den Ehrenvorsitzenden ziemlich pessimistisch stimmen. Die derzeitigen Einschränkungen – der verlängerte Lockdown – hinzugerechnet, ergeben nicht die besten Voraussetzungen, einen runden Geburtstag zu feiern.
Am heutigen Sonnabend wird Alexander Eberhardt Gauland, geboren 1941 in Chemnitz als Sohn eines pensionierten Polizeiobristen und ehemaligen königlich-sächsischen Offiziers, benannt nach einem russischen Zaren, 80 Jahre alt.
JF 8/21