HAMBURG. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel hat schwerwiegende Fehler in seiner Berichterstattung über den Antiterroreinsatz in Bad Kleinen im Jahr 1993 eingeräumt. Die damalige Titelgeschichte unter der Überschrift „Der Todesschuß“ habe auf einer „mangelhaft geprüften und falschen Aussage“ beruht und sei ein „journalistischer Fehler“ gewesen, heißt es im Bericht einer internen Untersuchungskommission, den das Nachrichtenmagazin nun veröffentlichte.
Daß der über ein Vierteljahrhundert zurückliegende Fall noch einmal umfassend aufgearbeitet wurde, geht auf eine Forderung des früheren Generalbundesanwalts Alexander von Stahl zurück. Er hatte sich im Dezember 2018 an die Redaktion in Hamburg gewandt, nachdem das Magazin den Fälschungsskandal um seinen früheren Reporter Claas Relotius offengelegt hatte.
Von Stahl forderte vor zwei Jahren, der Spiegel solle nun auch die Vorgänge um einen angeblichen Informanten aufklären, der behauptet hatte, bei der Polizeiaktion im Bahnhof der Stadt in Mecklenburg-Vorpommern dabei gewesen zu sein. Auf dessen Aussage basierte die – bereits kurz danach als falsch erwiesene – Schilderung durch das Magazin, das Führungsmitglied der terroristischen Roten Armee Fraktion (RAF), Wolfgang Grams, sei von Polizisten in einer Art „Exekution“ getötet worden.
„Eine der schlimmsten Katastrophen des deutschen Journalismus“
Grams war im Juni 1993 gemeinsam mit seiner Komplizin Birgit Hogefeld von einem Kommando der Bundesgrenzschutz-Spezialeinheit GSG 9 observiert worden. Beim Versuch der Festnahme konnte Grams seine Waffe ziehen und einen Beamten erschießen. Nach dem Schußwechsel tötete sich der Terrorist selbst, wie eine Obduktion ergab. Der Spiegel wartete damals in einem Beitrag des Reporters Hans Leyendecker mit einem Zeugen auf, der behauptet haben soll, ein Polizist habe aus nächster Nähe auf Grams gefeuert.
Im Zuge der danach ausgelösten Medien-Debatte trat der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) zurück. Anschließend versetzte Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) den Generalbundesanwalt von Stahl, der „Herr des Ermittlungsverfahrens“ gegen die Terroristen war, vorzeitig in den Ruhestand. 1994 stellte ein Sachverständigengutachten eindeutig fest, daß „eine rechtswidrige Tötung durch aus nächster Nähe abgegebene Schüsse auf Grams ausscheidet“. Die prominente Reporter-Legende Dagobert Lindlau schrieb später rückblickend, der Fall sei „eine der schlimmsten Informationskatastrophen des deutschen Journalismus“ gewesen.
Nicht Quellenschutz, sondern Verschleierung
Bereits vor zwei Jahren war sich der ehemalige Generalbundesanwalt, dessen Karriere durch die falschen Vorwürfe im Spiegel vorzeitig beendet wurde, sicher, daß es den vermeintlichen Zeugen in Wirklichkeit nie gab, wie er seinerzeit der JUNGEN FREIHEIT sagte.
Davon sind nun auch die Gutachter der Spiegels nach ihrer etwa ein Jahr dauernden Untersuchung überzeugt. In ihrem vorgelegten Bericht legen sie nahe, daß der damalige Spiegel-Reporter Leyendecker nicht wie von ihm nach wie vor behauptet zwei, sondern nur eine Quelle für seine Geschichte hatte. Und daß seine Darstellungen lediglich auf den Behauptungen eines anonymen Anrufers beruhten, der auch in Wahrheit nicht Zeuge der Polizeiaktion in Bad Kleinen war.
An Leyendeckers Arbeit lassen die Spiegel-Ermittler insgesamt kein gutes Haar. Der Autor der fatalen Titelgeschichte von 1993, der später oberster Investigativjournalist bei der Süddeutschen Zeitung wurde, zeigte sich laut dem Abschlußbericht der Kommission auch nicht besonders kooperativ bei der Aufarbeitung. Vieles, was Aufschluß über die Existenz seines damaligen Informanten hätte geben können, sei von ihm mit dem Hinweis auf Quellenschutz nicht beantwortet worden. Er habe keine Hinweise gegeben, die „es der Kommission ermöglicht hätten, seine Darstellung zu prüfen“, und Auskünfte verweigert. Diskrepanzen zwischen seinen Schilderungen und denen quasi aller anderen Beteiligten, habe Leyendecker mit der Behauptung erklärt, diese Personen erinnerten sich falsch.
Verantwortung trägt Spiegel-Chefredaktion
Die Untersuchungskommission kommt jedoch zu dem Ergebnis, daß Behauptungen des Reporters in Wahrheit „nicht dem Quellenschutz dienten, sondern verschleiern sollten, daß Leyendecker einem anonymen Anrufer auf den Leim gegangen war, ohne die Quelle zu prüfen.“
Wie es im Bericht heißt, hätten bereits vor Erscheinen der Geschichte über die vermeintliche „Hinrichtung“ des Terroristen Grams einige Spiegel-Mitarbeiter, darunter eine Justitiarin, Bedenken, ob die Darstellungen so stimmten. Ausgiebig befragt hatten die mit der internen Aufarbeitung befaßten Journalisten neben ehemaligen Spiegel-Kollegen auch den Juristen und RAF-Experten Butz Peters, der bereits in seinem 2006 erschienen Buch die Verschwörungstheorien Leyendeckers zerpflückt hatte.
Laut der Kommission hätten die bereits früh erkennbaren Widersprüche in „Der Todesschuß“ dazu führen müssen, daß eine von mehreren Instanzen im Magazin „die Reißleine gezogen hätte“. Dies sei offenbar jedoch durch den „exponierten Status“ erschwert worden, „den sich Leyendecker in der Redaktion durch herausragende investigative Recherchen erarbeitet hatte“. Am Schluß lautet daher das Fazit der Ermittler zu den Vorgängen des Jahres 1993: Die Verantwortung dafür, „eine nicht überprüfte, widersprüchliche Aussage dieser Tragweite zu einer Titelgeschichte zu machen“, trage die damalige Chefredaktion des Spiegels.
Der ehemalige Generalbundesanwalt empfindet angesichts der Veröffentlichung der Ergebnisse dieser Untersuchung, die maßgeblich auf seine Anregung hin vorgenommen wurde, eine gewisse Genugtuung. Daß der Spiegel seine damaligen Fehler gleich vorn im aktuellen Heft eingeräumt hat, wertet von Stahl im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT als „Entschuldigung, auch wenn der Anlaß so viele Jahre her ist“. Daß sich Reporter Leyendecker nach wie vor auf den Quellenschutz beruft, kann der ehemalige deutsche Chefankläger indes nicht nachvollziehen: „Einen Lügner muß man nicht schützen“, sagte von Stahl der JF.(vo)