Samstag, 1. August, 14.15 Uhr. Sonne pur. Der Asphalt der Straße des 17. Junis hat sich aufgeheizt. Die Fahrbahn ist voller Kreidestriche – Abstandshalter. Kinder malen Herzen und Blumen drauf. Familien flanieren vom Brandenburger Tor Richtung Siegessäule. Musik ertönt aus Lautsprecheranlagen. Im angrenzenden Tiergarten links und rechts der Straße sitzen Leute auf Picknickdecken, manche tanzen. „Das ist ja ein Lebensgefühl wie eine der ersten Loveparades vor 20 Jahren“, sagt ein Berliner Historiker, der gerade aus Palermo zurück ist. „Die Italiener demonstrieren wegen der Corona-Einschränkungen sehr viel ängstlicher, zurückhaltender.“ An diesem 1. August ist in Berlin niemand ängstlich – jedenfalls niemand, der auf der Straße des 17. Juni gegen die Corona-Einschränkungen demonstriert.
Zu der bundesweiten Demo „Tag der Freiheit – Das Ende der Pandemie“ hatte „Querdenken 711“aufgerufen, eine überparteiliche Initiative des Stuttgarter IT-Unternehmers Michael Ballweg. Sie setzt sich, laut Eigenauskunft, für die Aufhebung der Einschränkungen durch die Corona-Verordnungen ein, weil die dem Grundgesetz widersprächen. Aus dem ganzen Bundesgebiet waren die Demonstranten angereist, genauso viele Frauen wie Männer, hatten sich von Hamburg, München, Stuttgart, Chemnitz, Magdeburg auf den Weg gemacht. Der Veranstalter hatte vorab mit 500.000 Protestlern gerechnet. Um es vorweg zu sagen: Wie viele Menschen wirklich demonstrierten, ist nicht klar. Dabei sollte dazu behördlicherseits die Polizei fähig sein. Doch obwohl sie einen Hubschrauber startete, „um unseren Einsatzleiter aus der Luft einen Überblick über die aktuelle Lage in Berlin zu verschaffen“, kam sie dann auf eine doch eher überschaubare Teilnehmerzahl des Umzugs und veröffentlichte sie via Twitter am Samstag um 14.50 Uhr: „In der Spitze zählte diese Versammlung etwa 17.000 Teilnehmende.“
In der Spitze zählte diese Versammlung etwa 17.000 Teilnehmende.
Eine exorbitant höhere Zahl, die laut verschiedener Tweets durch uns genannt worden sein soll, können wir nicht bestätigen.#b0108— Polizei Berlin Einsatz (@PolizeiBerlin_E) August 1, 2020
In der gleichen Meldung dementierte sie: „Eine exorbitant höhere Zahl, die laut verschiedener Tweets durch uns genannt worden sein soll, können wir nicht bestätigen.“ Dabei geht es um Meldungen, daß 800.000 Demonstranten vor Ort sein, andere schrieben sogar von 1,3 Millionen, sagt etwa Arzt Bodo Schiffmann in einem Live-Interview, in dem er sich auf angeblich Angaben der Polizei bezog, der die Partei „Widerstand 2020“ mitgegründet hatte. Die JUNGE FREIHEIT fragte bei der Polizei in Berlin nach. Demnach waren 17.000 Demonstrationsteilnehmer beim Aufzug, auf der Kundgebung auf der Straße des 17. Juni waren es dann 20.000 Teilnehmer.
Nicht alle Demonstranten sind auf Foto zu sehen
Auch diese Zahl erscheint gering. Denn, selbst wenn man sich die Agenturfotos anschaut, die die geringe Teilnehmerzahl beweisen soll, zeigt das Foto der Nachrichtenagentur dpa, das von der Welt bis zur ARD als Beleg dafür dient, nicht annähernd die wahre Anzahl der Demonstranten. Aus dem einfachen Grund, weil die Polizei nach 14.30 Uhr den Zugang vom Brandenburger Tor Richtung Siegessäule versperrte. Die Demonstranten mußten ausweichen. Einer von ihnen kommentiert: „Man könnte denken, man hat Schiß vor uns – zurecht!“ Tatsächlich schienen die Polizisten, die an der zum Bundeskanzleramt führenden Yitzhak-Rabin-Straße gegen den Ansturm der Demonstranten eine Barriere errichtet hatten, überfordert mit der Situation, da die Demonstrationsteilnehmer einfach auswichen – und zwar in den Tiergarten, der an seinen Rändern zur Straße dadurch überfüllt war. Auf dem Foto sieht man das naturgegeben nicht, sondern nur Baumwipfel.
Doch: Eben dieses Foto belegt ja für Teile der Presse, daß bei weitem nicht so viele Demonstrationsteilnehmer vor Ort waren, wie angemeldet. So schreibt die Welt in einer Bildunterschrift: „Wer genau hinsieht, erkennt, daß die Teilnehmer nicht dicht an dicht stehen“. Wenn sie denn nicht dicht bei dicht stehen, dann wurde der Abstand zum größten Teil auch eingehalten, oder? Übrigens: Nach der „Black Lives Matter“-Demo auf dem Alexanderplatz am 6. Juni mit über 15.000 Teilnehmern schrieb der Rundfunk Berlin-Brandenburg auf seiner Internetseite: „Nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd in Minneapolis hatten am Samstag auf dem Berliner Alexanderplatz viel mehr Menschen als erwartet gegen Rassismus demonstriert. Die Polizei rief dazu auf, die Corona-Regeln einzuhalten und weitete den Versammlungsort auf angrenzende Straßen aus. Demonstranten waren aber ohne Mundschutz gekommen und hielten auch nicht den festgeschriebenen Abstand von 1,5 Metern ein.“
Es gab ein wenig Kritik damals, aber selbst Innensenator Andreas Geisel (SPD) hatte Verständnis für die Demonstranten. „Das politische Anliegen der Demonstration gegen Rassismus am Alexanderplatz teile er aber voll und ganz. Die eigentliche Demonstration auf dem Alexanderplatz sei sehr friedvoll verlaufen. Er bedauerte, dass Polizeibeamte im Anschluss in unmittelbarer Nähe angegriffen und zum Teil verletzt wurden.“
Apropos verletzte Polizisten: „Demonstranten attackieren nicht andere Demonstranten und Demonstranten attackieren auch nicht die Polizei“, sagte „Querdenker 711“-Initiator Michael Ballweg auf der Demo. Auf der Demonstration wurden Beamte von den Teilnehmern beklatscht. In vielen Medien hingegen wurde behauptet, daß 18 Polizeibeamte auf der Corona-Demonstration verletzt worden seien. Das ist falsch. Auch hier fragte die JUNGE FREIHEIT bei der Polizei nach. Demnach wurden auf der Corona-Demo sieben Polizeibeamte verletzt. „Einige mußten ambulant behandelt werden“, sagte ein Sprecher der JF. Auf der anschließenden Linken-Demo in Neukölln wurden 43 Beamte verletzt, von denen drei in die Klinik gebracht wurden.
Die Heftigkeit, mit der Presse und Politik an Demonstrationen Kritik äußert, ist also abhängig von ihrer politischen Ausrichtung. Von Esoterikern und Neonazis ist die Rede. Die JF war mit drei Redakteuren vor Ort und sprach mit Demonstrationsteilnehmern. Hier ein paar Stimmen von ihnen:
„Ich bin hier, um die Grundrechte zu verteidigen“, sagt Karin Evers. Die 81jährige Rentnerin ist waschechte Berlinerin. „Wissen Sie, ich halte diese ganze Corona-Verordnungen für ein Trojanisches Pferd. Mit Hilfe dieser Verordnungen soll unsere Freiheit eingeschränkt werden. Da mache ich nicht mit. Ich habe den Krieg, die Flucht aus Ostpreußen, den Wiederaufbau miterlebt. Ich habe schon bei John F. Kennedys Berlinbesuch auf der Straße gestanden. Ich sehe das heute als meine Pflicht an hier zu sein.“
Ein aus dem linksliberalen Milieu Tübingens stammendes Ehepaar, langjährige Grünen-Wähler, haben aufgrund der Corona-Politik mit der Partei für immer gebrochen, sie: „Wenn man die Grünen mal wirklich braucht, sind sie nicht da. Es ist unglaublich, wie sich die Grünen hier der Regierungsagenda andienten.“ Beiden ist klar: die Grünen sind für sie gestorben.
Beredtes Beispiel für die Protestler, die aus dem ganzen Bundesgebiet angereist sind, ist ein aus Ostberlin stammender Rettungssanitäter – zusammen mit seiner in Hamburg studierenden Tochter. Auf die Frage, seit wann sie die hiesige Corona-Politik derart kritisch beäugen, also „aufgewacht“ seien, widerspricht der Vater sofort: „Wir haben nicht geschlafen. Viel gefährlicher sind doch die Krankenhauskeime, die jährlich zehn- bis zwanzigtausend Tote fordern, da bleibt die Regierung aber untätig.“ Die Tochter berichtet, wie im Hamburger Krankenhaus drei Stationen mit einem einzigen Lappen gesäubert worden seien. „Hygiene? Das ist ein Witz!“ Es sind nicht nur diese doppelten Standards, die die Leute hier an der Corona-Hysterie zweifeln lassen.
„Querdenken“-Aufkleber als Erkennungszeichen
Ebenso wissen etliche auf Nachfrage genaue medizinische Erklärungen zum „angeblichen“ Virus zu geben, deren Plausibilität auf den virologisch Unkundigen geradezu erschlagend (oder besser: entwaffnend) wirkt, etwa am Beispiel des Präsidenten von Tansania, das die Fragwürdigkeit des Corona-Tests belegen soll, da dort in einem Blindtest ebenso eine Ziege und eine Papaya positiv auf den Covid-19 getestet worden seien.
Auffällig viele Demonstranten tragen einen „Querdenken“-Aufkleber als Erkennungszeichen. Hinter dem Phänomen verbirgt sich eine auf dem Messenger-Dienst „Telegram“ beheimatete dezentrale Bewegung, die sich während der Corona-Einschränkungen gebildet hatte – und von der einige Ortsgruppen offensichtlich auch vom Verschwörungs-Virus der Reichsbürgerbewegung befallen sind. Allerdings sind jene Anhänger, wenn man sie anspricht, zumeist erst kürzlich mit diesen kruden Thesen konfrontiert worden, die einige sofort als „die Wahrheit“ anerkennen – und damit für den Betrachter einen weitverbreiteten und daher erschreckenden Vertrauensverlust in die bundesdeutsche Politik erkennen lassen. Diese Querdenker sind so gesehen das Symptom einer aus Sicht vieler hier unverantwortlich handelnden Bundesregierung.
Als der Redner auf der Tribüne, nachdem die Polizei den Abbruch der Veranstaltung verlangt hat, verkündet: „Ich berufe mich jetzt auf das Widerstandsrecht nach Art. 20 des Grundgesetzes“, braust in der Menschenmenge auf der Straße des 17. Juni ein gewaltiger Applaus auf. Doch dann besetzt die Polizei die Bühne. Ebenso berührend, jedenfalls für kurze Augenblicke, wirken die Sprechchöre der Masse aus dem Herbst 89 wie „Wir sind das Volk“, „Wir bleiben hier“ und „Schließt euch an!“ Weitere Rufe akklamieren „Widerstand“, „Freiheit“, „Merkel muß weg“, „Wir sind mehr“ und „Ihr gehört zu uns“.
Supermarkt-Leiterin gegen Maskenpflicht
Die Filialleiterin einer großen Lebensmittelkette in Sachsen-Anhalt berichtet der JF von der Maskenpflicht im Supermarkt, der den Verkäufern nicht zuzumuten sei – ebensowenig der Kundschaft. So seien in ihrer Filiale bereits drei Kunden an der Kasse wegen des Mundschutzes zusammengebrochen und seien jedesmal vom Krankenwagen des Rettungsdienstes abgeholt worden. Zudem, so die Einzelhändlerin, führe die Maskenpflicht zu Umsatzeinbußen von bis zu 30 Prozent, da die Kunden sofort zu anderen Discountern wechselten, wo die Maskenpflicht nicht so ernst genommen werde. Sie selbst habe, nachdem sie ebenfalls die Maskenplicht quasi ausgesetzt habe, sofort eine entsprechende Umsatzsteigerung registriert.
Eine Ernährungsberaterin aus Hamburg irritiert am meisten, daß auf Teufel komm raus an einer, zumindest impliziten Impfpflicht gearbeitet werde, während die naheliegendste Botschaft, nämlich zur Stärkung des eigenen Immunsystems, tabuisiert werde, weshalb sie die Pharma-Lobby für die aktuelle Corona-Politik verantwortlich macht. Nicht zufällig sind auf vielen Schildern entsprechende Botschaften gegen Bill Gates zu finden.
Ja, es waren dort auch Teilnehmer, die sich der Presse skeptisch gegenüber verhielten. Eine Dame wollte, bevor sie überhaupt etwas sagt, den Presseausweis abfilmen. Ja, es wurden auch Polizeifahrzeuge an einer Weiterfahrt gehindert – in dem sich junge Leute einfach auf die Straße vor die Autos setzten. Und ja, es wurde auch die deutsche Nationalhymne gesungen. Ist das ein Beweis für angeblich anwesende Rechtsradikale?
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