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NSA-Affäre: Der doppelte Staat

NSA-Affäre: Der doppelte Staat

NSA-Affäre: Der doppelte Staat

NSA-Affäre
 

Der doppelte Staat

NSA, Prism, XKeyscore und Tempora bezeichnen ein dichtgewebtes Netz aus Überwachung und Kontrolle, das über unser privates und öffentliches Leben geworfen ist. Die Ausschnüffelung der elektronischen Kommunikation in Deutschland durch den anglo-amerikanischen Datenkraken erfolgt flächendeckend, in Echtzeit oder auf Vorrat. Wissen ist Macht, und Geheimwissen bedeutet potenzierte Macht.
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Auf die Kenntnis dieser Begriffe hätte man gern verzichtet: NSA, Prism, XKeyscore, Tempora. Doch wir werden sie uns merken müssen, um die Situation, in der wir stehen, zu erkennen und zu begreifen. Sie bezeichnen ein dichtgewebtes Netz aus Überwachung und Kontrolle, das über unser privates und öffentliches Leben geworfen ist.

Die Ausschnüffelung der elektronischen Kommunikation in Deutschland durch den anglo-amerikanischen Datenkraken erfolgt flächendeckend und – je nach Bedarf – in Echtzeit oder auf Vorrat. Sie betrifft harmlose Konsumenten, die sich wegen ihrer Bestellungen bei Ebay oder Amazon plötzlich zum Sicherheitsrisiko gestempelt sehen können – wenn nicht heute, dann in zehn Jahren –, sie betrifft gegenwärtige oder künftige Aktivisten in politischen oder sozialen Bewegungen. Falls deren Richtung den Auftraggebern der NSA nicht genehm ist, könnte ihren führenden Köpfen eine elektronisch übermittelte Steuererklärung oder ein ärztlicher Befund umgehend zum Verhängnis werden.

Geheimwissen ist potenzierte Macht

Und das ist die unterste Ebene. Auf den oberen Etagen werden offenbar Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft, in Medien und Wissenschaft abgeschöpft. Wissen ist Macht, und Geheimwissen bedeutet potenzierte Macht, weil sie nicht zu kontrollieren, nicht einmal zu identifizieren ist. Wer sich einen heimlichen Wissensvorsprung über einen anderen verschafft, gewinnt Gewalt über ihn. Er kann sein Handeln vorausberechnen oder ihn erpressen. Die Enthüllungen des Amerikaners Edward Snowden haben die Diskurse über Datenschutz, informationelle Selbstbestimmung, Privatsphäre, Speicherfristen, über Transparenz und Freiheit zum haltlosen Geschnatter degradiert.

Wer die Geschichte der DDR erfassen will, muß ihre Durchseuchung durch die Stasi und den KGB thematisieren. Genauso muß man, um die politische und gesellschaftliche Realität der Bundesrepublik beurteilen, ihre verborgenen Tiefenstrukturen der Machtausübung ans Tageslicht ziehen. Der NSA- und Prism-Komplex gehörten dazu.

Der „tiefe Staat“ wird Wirklichkeit

Passend dazu macht ein aus dem Türkischen übersetzter Begriff die Runde: der „tiefe Staat“. Gemeint ist eine klandestine Verflechtung von Militär, Geheimdiensten, Politik, Justiz, Verwaltung zu einem „Staat im Staate“, der informell wirkt und an Recht und Gesetz nicht gebunden ist. Damit sind freilich nur die technischen Aspekte eines größeren Phänomens angedeutet, das Ernst Fraenkel als „Doppelstaat“ bezeichnete.

Der Doppelstaat besteht aus dem „Normenstaat“, der die traditionellen Institutionen von Politik, Verwaltung und Justiz umfaßt, und dem „Maßnahmenstaat“, ein Herrschaftssystem der Willkür, das durch keine öffentliche Kontrolle und rechtliche Garantien eingehegt ist. Gewöhnlich wird der Doppelstaat mit totalitären, auf politischen Erlösungsideologien beruhenden Systemen wie dem Kommunismus und Nationalsozialismus in Beziehung gebracht. Doch darauf muß er sich nicht beschränken!

Anlaß für einen permanenten Ausnahmezustand

Giorgio Agamben hat am Beispiel des Lagers Guantanamo nachgewiesen, daß Maßnahme-Tendenzen auch in Ländern auftreten, die formal demokratisch verfaßt sind. Der „Kampf gegen den Terror“ bietet den Anlaß für einen permanenten Ausnahmezustand. Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hat diese Logik faktisch bestätigt, als er die Überwachung mit einem „Supergrundrecht“ auf Sicherheit begründete. In Deutschland ist dieses Argument in doppelter Hinsicht lächerlich, weil die Bespitzelungspraxis hier nicht erst auf den 11. September, sondern auf das Besatzungsrecht zurückgeht.

Der Maßnahmenstaat schiebt sich über den Normenstaat, konterkariert und instrumentalisiert ihn, höhlt die Grundrechte und die politische Selbstbestimmung aus. Das ist die horizontale Ebene. Vollständig erschließt das Phänomen sich aber erst, wenn man auch die vertikale Achse der machtpolitischen Hierarchie beachtet. Ganz oben stehen die USA, assistiert von Großbritannien, das seine Weltmachtstellung 1947 offiziell an den angelsächsischen Neffen abgetreten hat und sich seitdem in seiner privilegierten Adlatus-Rolle eingerichtet hat.

Maßlose Wut auf Edward Snowden

Wie wichtig den Amerikanern ihr globales Überwachungsmonopol als Herrschaftsinstrument ist, zeigt sich in ihrer maßlosen Wut auf Edward Snowden. Washington zwang die europäischen Verbündeten, dem Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Morales auf dem Rückflug aus Moskau die Überflugerlaubnis zu verweigern und gegebenenfalls Snowdens Flucht nach Südamerika zu verhindern. Deutlicher kann das transatlantische Machtgefälle nicht demonstriert werden.

Wir haben nun die handfeste Bestätigung, daß die USA, um Einfluß auf Deutschland zu nehmen, sich nicht allein auf die Atlantik-Brücke und ähnliche Organisationen verlassen. Wolfgang Schäubles Ausspruch, Deutschland sei seit 1945 nicht mehr souverän, klingt da beinahe wie eine Untertreibung.

Wer kann da noch glauben, daß er mit seiner Stimme bei den Bundestagswahlen etwas Entscheidendes bewirkt? Wer wagt die Behauptung, daß die deutsche Position zum Euro im Kanzleramt, geschweige denn im Bundestag bestimmt wird? Daß die deutsche Europapolitik von deutschen Interessen und durch europäische Perspektiven definiert ist? Frei nach Brecht gefragt: Wessen Staat ist der gedoppelte Staat?

JF 33/13

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