„Bitte alle Fahrgäste aussteigen, die Weiterfahrt über den Oranienplatz ist wegen einer Demonstration leider nicht möglich“, schallt die Durchsage des Fahrers durch den Metrobus. Bei sonnigem Wetter ist der kurze Fußmarsch vom U-Bahnhof Moritzplatz zum Oranienplatz aber ohnehin ein Vergnügen. Dort angekommen, wird dem Besucher klar, warum der Bus, ebenso wie alle anderen Verkehrsteilnehmer, an der Weiterfahrt gehindert wurde. Barrikaden, bestehend aus Bänken, Brettern und Transparenten sperren die Berliner Oranienstraße. Die Polizei beobachtet mit gebührendem Sicherheitsabstand von den Grünflächen aus die Demonstration. Mitten auf der Straße liegt eine weiße Matratze, auf der ein afrikanischer Asylbewerber seinen Mittagsschlaf hält.
Direkt neben ihm steht der aus Nigeria stammende Anführer der Proteste – Mitte 30, bulliger Körper, mit gelbem T-Shirt und Baskenmütze. In der Hand hält er ein Megaphon, in das er unentwegt auf englisch brüllt. „Justice“, „human rights“, „dignity“, sind seine meistbenutzten Schlagwörter. Die afrikanischen Asylsucher campieren auf dem Platz bereits seit Oktober 2012. Mit den Barrikaden, die die Flüchtlinge am Montagvormittag am Oranienplatz errichtet haben und damit den Verkehr in diesem Teil Kreuzbergs zum Erliegen bringen, wollen sie auf ihre schwierigen Lebensbedingungen aufmerksam machen.
Bezirksbürgermeister hatte eingeladen
Seit dem vergangenen Herbst leben die jungen Männer hier unter unwürdigen Bedingungen, nachdem sie der Bezirksbürgermeister Franz Schulz (Grüne) eingeladen hatte, auf dem Platz zu campieren, damit sie ihren Forderungen nach einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung Nachdruck verleihen können. Auf der Oranienstraße vor dem Camp haben sich an diesem Montagmittag mindestens ebenso viele deutschstämmige Unterstützer eingefunden wie Asylsuchende.
Die meisten der Afrikaner haben sich bereits ins Camp zurückgezogen oder ruhen sich bei Bier und Döner in der Mittagssonne auf den umstehenden Parkbänken aus, während die jungen Deutschen, meist alternativ gekleidet mit Dreadlocks und Flipflops, vor dem Camp zur Unterstützung der Straßenblockade angetreten sind. In den vor dem Lager plazierten Informationszelten sind sie es, die für offene Grenzen werben. „Kein Mensch ist illegal“ steht auf ihren Plakaten, daneben „Es ist Zeit für Widerstand“.
Lager ist voller Dreck
Innerhalb des Camps auf dem Oranienplatz ändert sich das Bild schlagartig. Weiße sind hier nicht mehr zu sehen. Ob es die Berichte über Vergewaltigungen weiblicher Helfer waren oder schlicht der Dreck und die unhygienischen Zustände, die Besucher wie Journalisten gleichermaßen abschrecken? Gerade sind die letzten Afrikaner mit dem Essen fertig geworden, zumindest die, die sich für den Reis im Essenszelt entschieden haben und sich nicht auswärts um Verpflegung bemüht haben. Für die Fliegen hat die Nahrungsaufnahme dagegen gerade erst begonnen.
Tausende von ihnen genießen auf dem Gelände des Camps paradiesische Zustände. Neben einem der Zelte liegen die Reste einer Pizza, auf einem Schemel steht eine Portion Reis mit Sauce, noch nicht einmal angerührt. Daß es bei den Lebensmittelresten, die überall auf dem Boden liegen, im Camp noch nicht vor Ratten wimmelt, verwundert. Einige der überwiegend aus Nigeria stammenden jungen Männer haben es sich auf Klappstühlen neben einem der riesigen Mehrbettzelte bequem gemacht.
Campführung offenbart schlimme Zustände
Einer von ihnen, ein schlaksiger Typ im weißen Hemd, bietet eine Führung durch das Lager und eine Besichtigung der Zelte an. „Komm nur rein“, unterbricht er kurz seinen eigenen Redefluß und deutet dem Besucher mit einer Handbewegung an, doch das Innere des Zeltes in Augenschein zu nehmen. Darin stehen etwa zehn Betten dicht beinander, in der Mitte ein Fernseher. Platz sich umzuziehen, gibt es hier ebensowenig wie auch nur ein kleines bißchen Privatsphäre – mindestens zwei Männer müssen in einem Bett schlafen. „Wenn es regnet ist es hier besonders schlimm, weil immer Wasser ins Zelt kommt“, erklärt der ebenfalls aus Nigeria stammende junge Mann in stakkatohaftem Englisch.
Als nächstes ist die Küche dran, die in einem ausrangierten Bauwagen untergebracht wurde. „Schau dir das an“, schreit er und hält sichtlich erregt ein Bündel Radieschen in die Luft, die offensichtlich ihre beste Zeit bereits gesehen haben. „Sie füttern uns hier wie die Tiere. Nichts von dem Zeug, das sie uns geben, ist frisch.“ Der Dreck, die schlechte Ernährung und die Lebensbedingungen am Oranienplatz hätten schon viele krank werden lassen, behauptet er und hält plötzlich inne: „Verstehst du eigentlich, was ich dir hier sage?“
Junge Männer sind nicht vor Verfolgung geflohen
Auf die anschließende Frage, ob er denn in Nigeria verfolgt worden sei und deswegen nicht zurückkönne, flippt er aus und fängt an zu brüllen. „Ich habe elf Jahre in Libyen gelebt und mußte wegen des Bürgerkriegs fliehen. Wir haben alle in Libyen gearbeitet, nachdem wir Nigeria verlassen haben. Wo ist das Problem? Libyen ist Afrika, und wir haben das Recht, überall in Afrika zu leben und zu arbeiten.“ Die ungehaltene Reaktion läßt darauf schließen, daß die Campbewohner nicht das erste Mal mit der Frage konfrontiert wurden, warum junge, kräftige Männer, die in ihrem Heimatland nach eigener Aussage nicht verfolgt werden, nicht einfach wieder zurückkehren können.
Vor dem großen Zelt sitzt immer noch die Gruppe um den Anführer im gelben Hemd und vertreibt sich die Zeit bei Bier und launiger Unterhaltung. Sobald Deutsche hinzutreten, ändert sich die Stimmung. Besonders beklagen die Männer, daß sie weder arbeiten können, noch sich frei in Europa bewegen dürften. „Europa hat doch keine Grenzen mehr, alle Menschen dürfen sich in Europa frei bewegen, nur wir nicht“, beklagt einer der Männer, der seine Augen unter einer schwarzen Sonnenbrille verbirgt. „Wir sind auf der Suche nach dem guten Leben, und es gibt kein gutes Leben ohne Aufenthaltsgenehmigung“, wird er deutlich. Seine Worte klingen bekannt.
Linke Parteien mißbrauchen Asylanten
Im selben Duktus machen sich seit Monaten Grüne und Linke für die Asylsucher stark, die auch am Oranienplatz den jungen Afrikanern Hoffnung machen und sie dabei in Geiselhaft für ihre eigenen politischen Ziele nehmen. „Wir sind nicht gekommen, um Europa zu erobern“, beschwichtigt ein anderer. „Wir wollen einfach nur Geld verdienen und das dann mit nach Hause nehmen.“
Nach Hause? Wo das ist, kann er nicht sagen. Für die Polizei haben die Campbewohner dagegen nur warme Worte. Trotz der illegalen Barrikadenerrichtung und der Verkehrsbehinderung sei diese nicht eingeschritten und habe Verständnis für ihre Situation gezeigt. „Wir geben nicht auf“, gibt sich der Wortführer im gelben Hemd am Ende des Gesprächs kämpferisch. Die nächste Aktion sei für August geplant, „wenn sich bis dahin nichts an der unerträglichen Situation ändert“. Die Chancen stehen gut. Für die nächste Woche hat der Kreuzberger Bezirksbürgermeister den Campbewohnern Gespräche mit Bundespolitikern vermittelt.
Folgen Sie dem Autor auf twitter